Nach Massenprotesten in Israel Netanyahu verschiebt Justizreform
Angesichts der massiven Proteste in seinem Land will Israels Premier Netanyahu die umstrittene Justizreform verschieben. Es gelte, zunächst einen gesellschaftlichen Konsens herzustellen, sagte er in einer Ansprache.
In einer Rede an die Nation hat Israels Premierminister Benjamin Netanyahu angekündigt, das Tempo bei der umstrittenen Justizreform zu verringern. Demnach sollen weitere Teile des Gesetzespaketes erst nach den Parlamentsferien beraten und beschlossen werden. Die Ferien beginnen in der kommenden Woche und dauern bis Ende April.
Netanyahu kündigte außerdem an, das Gespräch mit der Opposition suchen zu wollen. Um eine Spaltung des Volkes zu verhindern, habe er entschieden, die Gesetzgebung zu verschieben. "Wenn es eine Chance gibt, einen Bürgerkrieg durch Dialog zu vermeiden, nehme ich, als Ministerpräsident, eine Auszeit für Dialog." Er sei zu einer Justizreform entschlossen, rufe nun aber zu einem Versuch auf, "breiten Konsens zu erreichen".
Zehntausende hatten den Tag über vor dem Parlament demonstriert, Zehntausende die Arbeit niedergelegt. Die größte Gewerkschaft sagte nach der Fernsehansprache Netanyahus einen Generalstreik ab.
Opposition: "Besser spät als nie"
Israels Opposition zeigte sich nach der Ankündigung grundsätzlich gesprächsbereit. "Wenn die Gesetzgebung wirklich und vollständig gestoppt wird, sind wir bereit, einen echten Dialog in der Residenz des Präsidenten zu beginnen", teilte Oppositionsführer Jair Lapid mit. Gleichwohl ließ er aber auch Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Aussagen Netanyahus durchblicken.
Der frühere Verteidigungsminister Benny Gantz teilte mit, er werde die Verhandlungen mit einem "offenen Herzen" aufnehmen. "Besser spät als nie." Zugleich dankte er den Demonstrantinnen und Demonstranten für ihren Kampf, der noch nicht vorbei sei.
Israels Präsident Izchak Herzog begrüßte die Ankündigung des Regierungschefs. "Es ist richtig, die Gesetzgebung zu stoppen. Jetzt ist es an der Zeit, einen aufrichtigen, ernsthaften und verantwortungsvollen Dialog zu beginnen, der die Wogen dringend glätten und die Temperatur senken wird", teilte Herzog mit. Er rief alle Seiten zu einem "verantwortungsvollem Handeln" auf. "Wenn eine Seite gewinnt, wird der Staat verlieren."
Eine Privatarmee für den Polizeiminister?
Die Ansprache Netanyahus hatte sich lange verzögert, weil es Widerstand innerhalb der Koalition gab. Vor allem der rechtsextreme Minister für Nationale Sicherheit, Ben Gvir, hatte mit einem Ausstieg aus der Koalition gedroht. Unter seiner Führung soll nun eine Nationalgarde eingerichtet werden, die Kritiker als steuerfinanzierte Privatarmee bezeichnen.
Ben Gvir hat sich für ein härteres Vorgehen gegen Demonstranten, aber auch gegen Palästinenser im besetzen Westjordanland ausgesprochen. Ob Netanyahu wirklich bereit ist, auch inhaltliche Zugeständnisse bei der Justizreform zu machen, ist noch unklar - ebenso, wie sich die zuletzt immer größer gewordenen Proteste gegen den Umbau im Justizwesen entwickeln werden.
Weniger Einfluss für das Oberste Gericht
Netanyahus Koalition will mit der Justizreform den Einfluss des Höchsten Gerichts beschneiden und die Machtposition der Regierung ausbauen. Die rechtsreligiöse Koalition wirft dem Höchsten Gericht übermäßige Einmischung in politische Entscheidungen vor.
Dem Parlament soll es den Plänen nach künftig etwa möglich sein, mit einfacher Mehrheit Entscheidungen des Gerichts aufzuheben. Zudem soll die Zusammensetzung des Gremiums zur Ernennung von Richtern geändert werden.
Netanyahu, gegen den ein Prozess wegen Korruption läuft, stellt die Reform als notwendig dar, um das Gleichgewicht in der Gewaltenteilung wiederherzustellen. Kritiker befürchten hingegen eine Aufhebung der Gewaltenteilung und eine Aushöhlung der Demokratie in Israel.
Kundgebungen in Tel Aviv
Die Pläne der Regierung zum Umbau der Justiz sorgen seit Wochen für Massenproteste. Demonstrationen legten auch heute weite Teile Israels lahm. Der Gewerkschaftsbund Histradrut hatte seine etwa 800.000 Mitglieder zum Streik aufgerufen. Vom Flughafen Ben Gurion hoben zeitweise keine Flugzeuge ab, Einkaufszentren und Kindergärten blieben geschlossen.
Erstmals hatten die nationalreligiösen Regierungsparteien auch Befürworter der Reform zu den Veranstaltungen gebracht, vor allem aus dem Umfeld der Siedler.
Regierungschef Netanyahu hatte den massiven Protest mit der Entlassung von Verteidigungsminister Joav Galant am Sonntagabend angefeuert. Galant hatte zuvor zu Gesprächen mit Kritikern und einem Stopp der umstrittenen Pläne für eine Justizreform aufgerufen und vor einer Gefahr für Israels Sicherheit gewarnt.
Mit Informationen von Jan-Christoph Kitzler, ARD-Studio Tel Aviv