Massive Proteste in Israel Stoppt Netanyahu die Justizreform?
Massenproteste, ein Generalstreik und die Armee in Alarmbereitschaft: Die Proteste gegen die geplante Justizreform in Israel erreichen einen neuen Höhepunkt. Der Druck auf Ministerpräsident Netanyahu ist immens: Wird er die Reform stoppen?
In Israel hat sich die politische Krise nach der Entlassung des Verteidigungsministers Joav Galant wegen dessen Kritik an einer umstrittenen Justizreform dramatisch zugespitzt. Zehntausende Menschen strömten in der Nacht auf die Straße, um gegen die von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu angeordnete Entlassung und die Reformpläne seiner rechts-religiösen Regierung zu protestieren. Auch heute gingen die Proteste weiter, Tausende Menschen gingen erneut auf die Straße.
Netanyahu ruft zu Gewaltlosigkeit auf
Netanyahu rief die Protestierenden auf Twitter zur Einheit und gegen Gewalt auf. "Ich rufe alle Demonstranten in Jerusalem, von rechts und von links, dazu auf, verantwortlich zu handeln und keine Gewalt anzuwenden", schrieb er. "Wir sind Brüder."
Der Dachverband der Gewerkschaften in Israel kündigte indes einen "historischen" Generalstreik an. Betroffen ist auch der internationale Flughafen Ben Gurion bei Tel Aviv. Es wird erwartet, dass Zehntausende Passagiere warten oder umbuchen müssen.
Präsident appelliert an Regierung
Präsident Isaac Herzog rief die Regierung zum Einlenken auf. "Um der Einheit des israelischen Volkes willen, um der Verantwortung willen, fordere ich Sie auf, die Gesetzgebung sofort einzustellen", sagte er am frühen Morgen. Die Menschen seien in tiefer Angst.
Angesichts der brenzligen Lage hielt Netanyahu in der Nacht Medienberichten zufolge eine Dringlichkeitssitzung zum weiteren Vorgehen ab. Mit Koalitionspolitikern soll er über eine mögliche Aussetzung des Reformvorhabens beraten haben.
Rede an die Nation geplant
Demnach plant Netanyahu noch heute eine Rede an die Nation. Die nach Medienberichten ursprünglich für 9.00 Uhr (MESZ) geplante Ansprache wurde allerdings verschoben. Hintergrund soll ein Streit innerhalb der Koalition sein. Demnach kündigten mehrere Minister an, zurücktreten zu wollen, sollte Netanyahu einen Stopp der Reform ankündigen.
Kernelement der Reform nimmt weitere Hürde
Ungeachtet der massiven Proteste hatte am Morgen ein Kernelement der umstrittenen Reform eine weitere Hürde genommen. Der Justizausschuss des Parlaments billigte den Gesetzestext, der die Zusammensetzung des Richterwahlausschusses ändern soll. Der Entwurf wurde zugleich zur finalen Lesung ans Plenum überwiesen. Die Gesetzesänderung würde der Regierung eine Mehrheit in dem Gremium und damit einen erheblichen Einfluss auf die Ernennung von Richtern verschaffen.
Verteidigungsminister entlassen
Netanyahu hatte Galant am Vorabend wegen dessen Aufrufs zum Stopp der Justizreform entlassen. Gegen die Reform, mit der der Einfluss des Höchsten Gerichts beschnitten und die Machtposition der Regierung zulasten der unabhängigen Justiz gestärkt werden soll, gibt es seit Monaten heftige Proteste.
Der bisherige Verteidigungsminister hatte am Samstagabend die Regierung zum Dialog mit Kritikern aufgerufen. Er warnte, dass die nationale Sicherheit und insbesondere die Einsatzfähigkeit der Armee auf dem Spiel stünden. Seit Wochen ist von wachsendem Unmut im Militär die Rede, aus Protest gegen die Reform waren zahlreiche Reservisten nicht zum Dienst erschienen.
Zusammenstöße zwischen Protestierenden und Polizei in Tel Aviv.
Zehntausende protestieren
Auf den Straßen bricht sich der Zorn vieler Menschen Bahn, die um die Demokratie in Israel fürchten. In Tel Aviv blockierten Demonstranten am Sonntagabend mit Israel-Fahnen die zentrale Straße nach Jerusalem und setzten Reifen in Brand. Die Polizei ging mit Reiterstaffeln und Wasserwerfern gegen die Menge vor, aus der Steine auf die Einsatzkräfte flogen.
In Jerusalem durchbrachen wütende Menschen eine Straßensperre neben Netanyahus Wohnhaus. Universitäten verkündeten aus Protest gegen die Entlassung Galants und die Reformpläne einen vorläufigen Unterrichtsstopp. Mehrere Bürgermeister traten in den Hungerstreik und forderten eine sofortige Eindämmung der nationalen Krise.
Der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich rief unterdessen zu Gegenprotesten auf. "Kommt nach Jerusalem. (...) Wir sind die Mehrheit, lasst uns unsere Stimme erheben. Wir lassen uns unsere Stimme und den Staat nicht stehlen", sagte er in einem Video, das auf Twitter verbreitetet wurde. Die Pläne zum Umbau der Justiz dürften nicht gestoppt werden.
Opposition: "Rote Linie überschritten"
Die Oppositionspolitiker Jair Lapid und Benny Gantz forderten Netanyahus Parteikollegen in einer gemeinsamen Mitteilung auf, "sich nicht an der Zerstörung der nationalen Sicherheit zu beteiligen". Der Regierungschef habe "eine rote Linie überschritten".
USA rufen zu Kompromiss auf
Auch international lösen die Pläne Kritik aus. Die US-Regierung als wichtigster Verbündeter äußerte sich "zutiefst besorgt". Angesichts der geplanten "grundlegenden Änderungen an einem demokratischen System" rief das Weiße Haus die israelische Führung nachdrücklich auf, sobald wie möglich einen Kompromiss zu finden.
Der ehemalige Ministerpräsident Naftali Bennett warnte, Israel befinde sich in der größten Gefahr seit dem Jom-Kippur-Krieg 1973. Arabische Staaten hatten Israel damals überraschend am höchsten jüdischen Feiertag angegriffen. Bennett rief Netanyahu dazu auf, die Entlassung Galants zurückzunehmen, die Reform auszusetzen und einen Dialog mit den Gegnern aufzunehmen.
Sicherheitsexperten warnen
Sicherheitsexperten warnen, Feinde Israels - allen voran der Iran, die libanesische Hisbollah-Miliz sowie militante Palästinenserorganisationen im Gazastreifen - könnten die Gunst der Stunde für Angriffe auf das durch die Krise geschwächte Land nutzen.