Großbritannien-Wahl "Werden viel von hässlichen Engländern hören"
Die Politik in Großbritannien werde "revolutionär anders werden", sagt der britische Politologe Glees im tagesschau.de-Interview. Premier Johnson werde lange Zeit den "starken Mann" geben. Und das Bild der Briten könnte sich ändern.
tagesschau.de: Wie erklären Sie sich diesen enormen Sieg für Johnson?
Anthony Glees: Wenn man die Stimmen der Parteien, die für ein Verbleiben in der europäischen Union waren, zusammenzählt, kommt man auf 52 Prozent. 48 Prozent waren für die Brexit-Befürworter. Aber wegen unseres Wahlsystems konnte es trotzdem zu diesem Erdrutsch für Boris Johnson kommen. Wir haben ja kein Verhältnis-, sondern ein Mehrheitswahlrecht. Das heißt, wer in einem Wahlkreis die Mehrheit bekommt, gewinnt den Wahlkreis, der Zweitplatzierte geht leer aus.
Aber das gute Ergebnis für die Tories hat auch mit dem Blödsinn zu tun, den Labour gemacht hat. Jeremy Corbyn hat das schlechteste Ergebnis seit 1935 eingefahren. Das bedeutet das Aus für ihn, aber es ist auch das Aus für seine links-sozialistische Politik. Kein Mensch hat ihm geglaubt, was er alles versprochen hat. Besonders schlimm ist: Sogar die Stammwähler, die seit eh und je Labour gewählt haben, im Norden von Großbritannien, sind jetzt zu den Tories gegangen.
Und auch die neue Chefin der Liberaldemokraten, Jo Swinson, konnte dem nichts entgegenhalten. Sie hat eine katastrophale Kampagne geführt und war ihrer Aufgabe überhaupt nicht gewachsen.
"Wir stehen an einem Wendepunkt"
tagesschau.de: Johnson ist in der Vergangenheit durch ein eher schwieriges Verhältnis zur Wahrheit aufgefallen. Warum konnte ihm das nichts anhaben?
Glees: Das ist eine sehr schwierige Frage. Es kommt ja noch hinzu: Johnson hat viele Kinder, auch uneheliche, wie viele genau, weiß kein Mensch. Seine Frau war sehr krank und er hat sich mitten in ihrer Krankheit von ihr scheiden lassen. Mit seiner neuen Freundin lebt er zusammen, ist aber nicht mit ihr verheiratet. Und das alles in einer konservativen Partei! Der Partei von Ehe und Familie, von Vertrauen und Glauben.
Ein wichtiger Grund für diesen Wahlsieg dürfte die Verzweiflung nach 2008 in Großbritannien sein. Die Austeritätspolitik, von Johnson und auch von Corbyn heftig kritisiert, war notwendig, sonst wäre Großbritannien bankrott gegangen. Das bedeutete aber für den Durchschnittsbürger zehn Jahre keine Erhöhung der Gehälter. Und für diese wirtschaftliche Verzweiflung hatte Labour überhaupt keine realistische Lösung anzubieten.
Wir stehen an einem Wendepunkt in der britischen politischen Geschichte. Jetzt wird ein neues Kapitel anbrechen, auch für die Europäische Union. Die Politik Großbritanniens, aber auch Nordirlands und Schottlands wird ganz anders werden. Revolutionär anders.
"Ein harter Brexit wird zu viel Arbeitslosigkeit führen"
tagesschau.de: Was meinen Sie damit?
Glees: Ich erwarte eine Revolution durch einen starken Mann in Großbritannien und eine starke Frau in Schottland. In England und Wales durch Johnson, der sich genau wie Donald Trump nicht mit Details befasst. Und für den die Wahrheit keine feste Sache ist, sondern eine schwankende. Er wird wohl lange Zeit Premierminister sein. Und wenn es ein harter Brexit wird, wird es viel Arbeitslosigkeit geben, besonders in den Teilen von Großbritannien, die Johnson gewählt haben.
Johnson hat jetzt die Möglichkeit, Großbritannien näher an die EU zu rücken durch ein Freihandelsabkommen. Aber er hat auch die Möglichkeit, Großbritannien näher an die Vereinigten Staaten zu rücken. Letzteres wird er wohl tun. Denn mit Trump spricht er eine gemeinsame Sprache.
tagesschau.de: Ebenfalls großer Wahlsieger ist die schottische Nationalpartei SNP. Führt das direkt in ein neues Unabhängigkeitsreferendum?
Glees: Johnson hat dem eine klare Absage erteilt und SNP-Parteichefin Nicola Sturgeon wird genau überlegen müssen, was sie tut. Sie hat eine starke Position, aber sie muss jetzt sehr klug handeln. Wenn sie wartet, bis Johnson womöglich eine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme anbietet, dann wird ihre Position schwächer. Es wäre also für sie das beste, möglichst schnell ein Unabhängigkeitsreferendum auf den Weg zu bringen. Ob sie das gewinnen kann, ist nicht klar. Aber es ist möglich.
"Für die Remainers ist es aus"
tagesschau.de: Wird sich die Stimmung im Land nach dieser Wahl nun verbessern? Die Verteilung der Stimmen zeigt ja, dass die Spaltung des Landes nach wie vor besteht.
Glees: Die Spaltung ist noch da, aber für die Remainers, also diejenigen, die in der EU bleiben wollten, ist es jetzt aus. Johnson wird jetzt schnell den Brexit vollziehen. Aber seine Strategie kann für ihn sehr gefährlich werden. Denn er hat Geister gerufen, die er vielleicht nicht mehr los wird. Besonders bei den Leuten, die in tiefster Verzweiflung sind seit mehr als zehn Jahren, hat er viel zu verlieren. Wenn er jetzt nicht liefert, kann das übel für ihn ausgehen.
Und er hat noch andere Geister beschworen: zum Beispiel den Nationalismus, den Hass gegen Europäer. Letztere hat er in seinem Wahlkampf beschimpft. Menschen, die rechtens in Großbritannien waren, um zu arbeiten, in der Gastronomie, als Ingenieure. Die werden sich jetzt nicht mehr wohl fühlen im Land. Wenn man mit so etwas anfängt, kann das nur übel enden. Man sprach in der Geschichte oft von den hässlichen Deutschen. Ich glaube, in den nächsten Jahren werden wir viel von den hässlichen Engländern zu hören bekommen.
Das Interview führte Sandra Stalinski, tagesschau.de