Ukrainischer Angriff auf Kursk Was bezweckt die Ukraine mit dem Vorstoß?
Bei Menschen in der Ukraine löst der Angriff auf die russische Region Kursk Genugtuung aus. Experten sind allerdings skeptisch, ob das Risiko sich auszahlt und die Ukraine Russland tatsächlich unter Druck setzen kann.
Tagelang herrschte Stillschweigen. Erstmals ist die ukrainische Armee mit Bodentruppen auf russisches Territorium vorgedrungen - doch über die Ziele des Angriffs schwiegen politische und militärische Führung.
Am Samstagabend nimmt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dann erstmals direkt Stellung: "General Syrsky hat heute schon mehrfach berichtet - über die Lage an der Front und unsere Aktionen, um den Krieg auf das Gebiet des Aggressors auszuweiten", sagt Selenskyj in seiner Ansprache. Er danke jeder einzelnen Einheit der ukrainischen Armee, die dies möglich gemacht habe. "Die Ukraine beweist, dass sie für Gerechtigkeit sorgen und den Druck ausüben kann, der nötig ist - Druck auf den Aggressor."
Es sind endlich wieder gute Nachrichten für die ukrainische Bevölkerung - nach Monaten in der Defensive und schmerzhaften Verlusten an der Front.
Freude in der Ukraine - doch kaum Informationen
Im Osten der Ukraine genießt Oleksandr das gute Wetter am Stadtstrand vom Saporischschja. Er verfolgt die Nachrichten aus Russland mit Freude. "Die Tatsache, dass unsere Jungs in Kursk sind, ist gut", sagt er. "Wir haben zwei Jahre lang eingesteckt. Sie sollen mal spüren, wie das ist. Das ist für unsere Kinder und Enkelkinder."
Doch auch fast eine Woche nach Beginn des Angriffs gibt es kaum belastbare Informationen. Tatsächlich sind es vor allem russische Kriegsblogger, die über die Lage berichten. Ihre Informationen können unabhängig nicht überprüft werden. Etwa 20 Kilometer seien die ukrainischen Truppen auf russisches Territorium vorgestoßen, gibt das amerikanische Institute for the Study of War an.
"Unklar, was die Armee kontrolliert"
Der amerikanische Militäranlyst Michael Kofman aber äußert in seinem Podcast Zweifel an den Informationen. Er glaube nicht, dass die Ukraine dieses Gebiet tatsächlich kontrolliert. Dafür sei es etwas früh.
"Es ist unklar, was die Armee kontrolliert, und was sie gedenkt zu halten. Es gibt auf jeden Fall einen Vorstoß, den sie gemacht haben", sagt Kofman. "Sie haben die russischen Grenzsoldaten und die Einheiten von Wehrpflichtigen überrannt und eine ganze Reihe von Kriegsgefangenen gemacht. Wir wissen nicht, wie viele, aber höchstwahrscheinlich sind es Hunderte."
Trotz der unklaren Informationslage: Viele Beobachter sind sich zumindest in einigen Punkten einig: Der Ukraine ist eine große Überraschung gelungen. Und: Der Angriff unterscheidet sich signifikant von vorherigen, kleineren Vorstößen auf russisches Gebiet. Es scheint sich um eine lang geplante Operation der ukrainischen Armee zu handeln.
Karte der Ukraine, schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Großes Risiko für die Ukraine
Russland verlege offenbar Reserven in die Region, um den Vorstoß der Ukrainer aufzuhalten, sagt Kofman. Dennoch sei es zu früh von einem Erfolg zu sprechen. "Wird es Russland dazu zwingen, seine Truppen von aktiven Einsätzen abzuziehen, die seine derzeitigen Vorstöße in Donezk wesentlich beeinträchtigen werden?" Es gehe um die Achse Pokrowsk - Torezk - Tschassiw Jar oder die aktuellen Positionen nördlich von Charkiw. "Denn bisher ist der russische Vormarsch auf Pokrowsk keineswegs zum Stillstand gekommen. Er hat sich in den letzten Tagen sogar noch beschleunigt."
Die Ukraine geht mit ihrem Angriff auf Russland ein großes Risiko ein. Sie will Russland auch politisch unter Druck setzten. Laut Präsident Selenskyj ist es die einzige Möglichkeit, einen gerechten Frieden zu erreichen, auch die Initiative auf dem Schlachtfeld wieder zu übernehmen.
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.