Ukrainer bei Olympischen Spielen Ihr wohl schwierigster Wettkampf
Noch nie nahmen so wenige Ukrainer an Olympia teil wie in Paris. Sie trainieren, während Trainingspartner getötet und Sportstätten bombardiert werden - und treten bei den Spielen gegen Russen an.
Es ist ruhig im einst sehr beliebten Sportstudio in der Stadt Chmelnyzkyj. Zwei Rentner, frühere Trainer, spielen Dame, umgeben von Stangen, Sportmatten und leeren Bänken. Gewichtheber Juri Chikida zeigt auf verblasste Fotos an der Wand und Pokale in der Ecke - eine Erinnerung an die vielen Spitzenathletinnen und -athleten aus der Region, die hier trainiert haben.
Die Zeit vor dem Krieg sei klasse gewesen, der Sport habe einen hohen Stellenwert gehabt, erinnert er sich. Nach dem Großangriff aber habe sich das Studio sofort geleert: "Alle waren in Panik, niemand wusste, was man jetzt machen und wohin man gehen soll."
Chikida hat auch den Olympiateilnehmer und Schwerathleten Oleksandr Pjeljeschenko trainiert. Bei gemeinsamen Wettkämpfen lernten sich die beiden Männer kennen und freundeten sich an. Als Russland die Ukraine angriff, meldete sich der 28-jährige Pjeljeschenko freiwillig zum Militärdienst.
Trotzdem planten beide, gemeinsam zu den Olympischen Spielen zu fahren. "Er hat davon geträumt, und er hatte Talent. Er hätte sicher etwas Großes erreicht. Leider wurde er im Krieg getötet", sagt Chikida. Spät in der Nacht bekam er einen Anruf - von Freunden aus der Einheit von Pjeljeschenko. Ein Schock.
Mittlerweile sind laut Sportministerium mehr als 450 ukrainische Sportler und Trainer an der Front oder als Zivilisten getötet wurden. Nur 140 Athletinnen und Athleten kämpfen in Paris um Medaillen - so wenige wie noch nie.
Juri Chikida trainierte den Gewichtheber Oleksandr Pjeljeschenko, der im Krieg gefallen ist.
Zerstörte Sportstätten
Dabei ist auch der Ringer und Olympiasieger Schan Beleniuk. Seit 2019 ist er Parlamentsabgeordneter für die Partei Sluha Narodu von Präsident Wolodymyr Selenskyj. Im Sportzentrum von Koncha Saspa, einem Vorort Kiews, steht eine Trainingseinheit an: erst Joggen, dann Klimmzüge. Letzte Vorbereitungen für Paris. Obwohl Beleniuk eigentlich aufhören wollte mit dem Profisport: "Der Krieg war mit der wichtigste Grund, warum ich meine Sportkarriere fortsetzen wollte", sagt er jetzt.
Kurz nach dem Angriff reist der Ringer in die USA, trainiert im Ausland, so wie viele Spitzensportler aus der Ukraine. Viele können nach wie vor nicht in Stadien, Schwimmhallen oder auf Laufbahnen zurück. Denn mehr als 300 Sporteinrichtungen wurden im Krieg beschädigt oder zerstört. "Ehrlich gesagt kann ich mich nicht mehr an das Leben vor dem Krieg erinnern", sagt Beleniuk. Er habe sich an die neue Realität gewöhnt: oft ohne Strom, im Winter ohne Heizung. Mit Raketenangriffen.
Botschaft der Sportler
Manche haben Familie und geliebte Menschen verloren, andere gute Freunde und Bekannte. Deswegen sieht Beleniuk die diesjährigen Olympischen Spiele in erster Linie als eine politische Plattform. Persönliche Ambitionen und Karrieren träten in den Hintergrund, meint er. Diese Spiele unterschieden sich von allen, die die Ukraine zuvor erlebte. "Wir tragen viel mehr Verantwortung, wir sind Sprachrohr, wir werden Geschichten erzählen", sagt Beleniuk.
Geschichten, wie sich ukrainische Sportler unter diesen Bedingungen vorbereiten, wie ihre Familien sterben, wie sie weiter trainieren, während Russland Teile des Landes besetzt hält. "Das wird Menschen noch mehr berühren, als wenn irgendwelche Politiker sprechen", glaubt der Ringer.
Schan Beleniuk ist Profisportler und Abgeordneter. Für ihn sind die Olympischen Spiele in erster Linie eine politische Plattform.
Schwierige Bedingungen in Paris
Und noch etwas macht die diesjährigen Olympischen Spiele für ukrainische Teams besonders - auch besonders belastend: In Paris treffen sie unter anderem auf Sportlerinnen und Sportler aus Russland und Belarus. Athletinnen und Athleten, die den Krieg nicht aktiv unterstützt haben, dürfen unter neutraler Flagge teilnehmen. Was ist, wenn Ukrainerinnen und Ukrainer auf sie treffen? Dafür hat das Nationale Olympische Komitee der Ukraine folgende Handlungsempfehlungen veröffentlicht: Kontakt meiden und Abstand halten im Fall einer gemeinsamen Ehrung, keine gemeinsamen Fotos oder Videos.
Die Teilnahme der Athletinnen und Athleten aus Russland hat in der Ukraine für heftige Diskussionen gesorgt. Auch Trainer Chikida meint: Sport und Politik waren schon immer eng verflochten - es sei schwer zu sagen, wo eine sogenannte Neutralität überhaupt anfinge.
Er selbst war Mitglied des SBU, also des Inlandsgeheimdienstes. Das ist oft der Fall bei olympischen Sportarten. "In Russland wird es nicht anders sein, auch dort wird der Sport vom Militär gefördert", sagt er. "Und wie kann dann ein Teilnehmer aus der Ukraine neben einem Sportler aus Russland stehen - das Land, das unsere Sporthallen mit Raketen zerbombt?"
Eine neutrale Flagge reiche nicht aus, findet auch Ringer Beleniuk, der von den ukrainischen Streitkräften gefördert wird. Für gemeinsamen Sport brauche es viel mehr: "Nur wenn Russland unser Land verlässt und Reparationen zahlt. Wenn Russinnen und Russen sich dafür entschuldigen, dass sie die Verbrechen von Putin unterstützt haben."
In Paris müssen die 140 Sportlerinnen und Sportler aus der Ukraine ihren vielleicht schwierigsten Wettkampf antreten: Sie kommen aus dem blutigen Kriegsalltag und sind in Gedanken bei den getöteten Athletinnen und Athleten, deren Sportträume vernichtet wurden.