Vitali Sydor
reportage

Landminen in der Ukraine "Wenn ich den Traktor besteige, bekreuzige ich mich"

Stand: 20.12.2024 15:20 Uhr

Bis zu 40 Prozent der Fläche der Ukraine könnten vermint sein. Oft sind Landwirte davon direkt betroffen. Einige entminen ihre Felder selbst - wohlwissend, sich damit in Lebensgefahr zu bringen.

Von Peter Sawicki, ARD Kiew

Gänse schnattern und laufen umher. Hinter ihrem Holzgehege erstrecken sich Felder. An einigen Sträuchern hängen Tomaten und Paprikaschoten. An anderen Stellen wächst Getreide. Der Bauernhof der Familie von Vitali Sydor in Novohryhoryvka im Süden der Ukraine ist aber nur auf den ersten Blick idyllisch. Einige Meter neben dem Tiergehege liegt Metallschrott - unter anderem verrostete Raketenteile und Granaten. Überbleibsel der Anfangsphase der russischen Invasion, als sich das Dorf in der Region Mykolajiw monatelang inmitten der Front befand.

Sydor erinnert sich mit Schrecken daran: "Wir versteckten uns im Keller. Als wir uns einmal herauswagten, sagte mein Vater, wir sollten zum Auto rennen und wegfahren. Dann kam das nächste Panzergeschoss. Eine Explosion, Steine flogen durchs Haus."

Bauern kümmern sich selbst um Entminung

Schließlich floh der 29-Jährige. Seit ihrer Rückkehr baut die Familie ihr Haus schrittweise wieder auf. Andere Gebäude in Novohryhoryvka sind nach wie vor zerstört oder mit Einschusslöchern übersät. Neben dem Wiederaufbau des Dorfes, so Vitali Sydor, war nach der Rückkehr die Entminung der Felder die wichtigste Aufgabe - um die er sich zunächst selbst gekümmert hat.

"Am Anfang gab es eine Menge Metall, vor allem nicht explodiertes. Wir haben dann herausgefunden, wie wir damit umgehen müssen. Es gibt verschiedene Arten von Granaten - einige kann man nicht einfach aufheben, andere kann man relativ sicher selbst entfernen."

Geholfen habe ihm dabei ein Bekannter, der ab 2014 im Donbass gekämpft hatte und sich mit Sprengkörpern auskenne. "Wir gingen mit Metalldetektoren auf dem Feld hin und her. Wenn wir etwas fanden, markierten wir die Stelle mit einem Fähnchen. Manche Dinge musste man mit Traktoren rausziehen - zum Beispiel Raketenteile."

Raketenteile und Granaten liegen auf einem Feld.

Im Laufe des Krieges hat Bauer Vitali Sydor einige Raketenteile und Granaten auf seinen Feldern gefunden.

Zwar hat Sydor mittlerweile eine norwegische Nichtregierungsorganisation bei der Entminung geholfen. Einen Großteil seiner 210 Hektar Agrarfläche hat er jedoch selbst entmint oder zumindest die gefährlichen Stellen markiert - um zu wissen, welche Fläche er wieder für den Anbau nutzen konnte.

Dass er damit sein Leben riskiert hat, ist ihm bewusst. "Vor Kurzem flog ein Mann in der Nähe mit seinem Traktor in die Luft. Auch ich habe Angst, wenn ich auf dem Traktor sitze. Wenn ich ihn besteige, bekreuzige ich mich - und fahre los. Wie soll ich es auch anders machen?"

"Landwirte können sich gerade so über Wasser halten"

Vitali Sydor sagt, er hätte zu lange warten müssen, bevor der ukrainische Staat seine Heimatgegend entmint hätte. Nach wie vor vermutet er auf seinen Felder einige Minen. Seine Familie müsse aber von etwas leben. Zumal die wirtschaftliche Lage für Landwirte ohnehin prekär sei. So ist der Hafen im nahegelegenen Mykolajiw kriegsbedingt geschlossen, hinzu kommen gesunkene Einnahmen.

"Früher habe ich für eine Tonne Gerste 170 Dollar bekommen. In Ismail an der Donau bekam ich gerade noch 80 Dollar pro Tonne. Nachdem der Hafen in Odessa wiedereröffnet wurde, stieg der Preis auf 110 Dollar. Dafür ist Diesel teurer geworden. Viele Landwirte können sich gerade so über Wasser halten."

Ein Mähdrescher mit Einschusslöchern.

In der Anfangsphase der russischen Invasion lag das Dorf Novohryhoryvka, in dem sich der Bauernhof von Vitali Sydor befindet, monatelang inmitten der Front. Die Spuren sind heute noch zu sehen.

Mehr als 240.000 Quadratkilometer könnten vermint sein

Laut Schätzungen der US-Denkfabrik Center for European Policy Analysis könnten bis zu 40 Prozent der Gesamtfläche der Ukraine mit Minen verseucht sein - das wären etwa 240.000 Quadratkilometer.

Bei der Entminung wird die Ukraine von internationalen Partnern unterstützt - darunter HALO Trust, einer in Großbritannien ansässigen Organisation für Entminung. Deren Projektleiterin in der Südukraine, Jasmine Dann, warnt eindringlich davor, in Eigenregie Minen zu entschärfen: "Das ist sehr gefährlich. Auch wenn ich sehr gut verstehe, warum Landwirte das machen. Wenn eine Fläche aber wirklich sicher werden soll, muss sie gründlich und professionell entschärft werden."

Die Fachleute von HALO Trust graben dabei Zentimeter für Zentimeter um eine Mine herum, sagt sie. Anschließend werde der Sprengkörper durch eine kontrollierte Detonation unschädlich gemacht.

Entminung könnte mehr als ein Jahrzehnt dauern

Die Situation in der Ukraine unterscheide sich dabei in einem Aspekt von anderen Kriegsgebieten, sagt die Expertin: "Im Süden der Ukraine hat sich die Front oft hin und her bewegt. Dadurch sind komplexe Minenfelder mit unterschiedlichen Typen entstanden. Einige dieser Minen sind sehr sensibel und explodieren zum Beispiel durch magnetische Signale - wenn also ein Fahrzeug nur in der Nähe der Mine vorbeifährt."

Zwar hat es HALO Trust nach eigenen Angaben bereits geschafft, einen großen Teil der verseuchten ukrainischen Agrarflächen wieder freizugeben. Was für die Lebensmittelsicherheit der Ukraine sowie auf der Welt insgesamt wichtig sei, wie die Organisation erklärt. Doch die Kapazitäten zur Entminung seien begrenzt, und die Menge an Sprengkörpern enorm, so Jasmine Dann: "Leider bleibt noch viel Arbeit für uns. Stand heute würde es noch mindestens ein Jahrzehnt dauern, um die Ukraine komplett zu entminen." Wie lange es tatsächlich dauert, hängt jedoch davon ab, wann der Krieg endet.

Auf seinem Hof ist Vitali Sydor die Erschöpfung anzumerken. Zum einen wünscht er sich weitere Unterstützung, um seine Felder endgültig von Minen freizuräumen. Im Abwehrkampf gegen Russland setzt er zwar auf einen Sieg, wie er sagt - hofft aber ebenso, dass der Krieg einfach zu Ende geht. "Wir leben im 21. Jahrhundert. Nicht wir, die normalen Menschen, stehen in der Verantwortung. Die zwei Präsidenten müssen sich zusammen hinsetzen, sich gegenseitig in die Augen schauen, und eine Lösung finden."

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 20. Dezember 2024 um 07:50 Uhr.