Russlands Krieg Das Tabu
Die Verluste der russischen Armee in der Ukraine sind nur selten Thema in der russischen Öffentlichkeit. Kritik an der Kriegsführung ist nur Hardlinern gestattet - allen anderen drohen drastische Strafen.
Es ist ein kalter Tag im Januar, als in der Wolga-Region jener Rekruten gedacht wird, die in der Silvesternacht durch einen gezielten ukrainischen Raketenangriff getötet worden sind. An Ehrenmälern werden rote Nelken niedergelegt und Kerzen entzündet.
Es sind Bilder, die nicht nur in den sozialen Netzwerken geteilt werden. Es ist einer der seltenen Momente, in denen auch das russische Staatsfernsehen berichtet. Über eine Trauerfeier, die beherrscht wird vom Wunsch nach Rache.
Zuvor hatte das Verteidigungsministerium nach knapp elf Monaten zum ersten Mal einen hohen Verlust eingeräumt - auch wenn dieser weit unter den Schätzungen anderer militärischer Beobachter blieb. "Leider wurden unter den Trümmern weitere Opfer gefunden. Die Zahl der getöteten Kameraden ist auf 89 gestiegen", sagte Generalleutnant Sergej Sewrjukow.
Das Sterben bleibt abstrakt
Frische Gräberreihen auf russischen Friedhöfen sind stille Zeugen der tatsächlichen Verluste. Ihre große Zahl steht im Widerspruch zu dem, was seit Beginn des Einmarsches in der Ukraine sporadisch verlautbart wurde - zuletzt im September von Verteidigungsminister Sergej Schojgu: "Die Verluste belaufen sich auf 5937 Personen."
Wer anderslautende Zahlen veröffentlicht, riskiert, ins Visier der Justiz zu geraten, wegen Diskreditierung der russischen Streitkräfte und der Verbreitung von Falschnachrichten. Weit über 5000 Geldbußen, aber auch Haftstrafen wurden bereits verhängt.
Die Behörden und die staatlichen Medien tun viel dafür, um das Sterben an der Front im Abstrakten zu lassen. Nur selten werden Bilder von Särgen, Beerdigungen oder von verzweifelten Hinterbliebenen gezeigt. Das wahre Ausmaß der Verluste soll nicht ins öffentliche Bewusstsein dringen.
Weit weg und ausgeblendet
Wie viele andere will auch die 40-jährige Lena solche Bilder gar nicht sehen: "Das Einzige, was ich will, ist, dass das schnell endet - mit wenig Blutvergießen", sagt sie. Sie schaue kein Fernsehen mehr, gehe Gesprächen über das Frontgeschehen aus dem Weg, erzählt sie. Sie halte es nicht aus.
Die Bomben, das Schießen auf ukrainischem Boden - all das blendet sie lieber aus. Es ist weit genug weg. "Bei uns hat sich im Prinzip ja nichts geändert."
Bei Bakinskaja in der südrussischen Region Krasnodar sind auf einem Friedhof gefallene Kämpfer der Wagner-Gruppe beigesetzt.
Alles passt in den offiziellen Plan
Nahe kam der Krieg, der so nicht heißen darf, einer Mehrheit im Land erst einmal, als der russische Präsident Wladimir Putin im September eine Teilmobilisierung anordnete. Laut Kreml wurden rund 318.000 Männer eingezogen.
Die Hälfte sei inzwischen in der Kampfzone, erklärte Putin im Dezember. Die andere Hälfte werde auf den Einsatz vorbereitet.
"Das ist eine ausreichende Reserve für die Durchführung der Operation", so Putin. Einer Operation, die offiziell keine weitere Mobilisierung braucht und nach Plan läuft, auch wenn die schnellen personellen Wechsel auf der Kommandoebene des Einsatzes zuletzt anderes vermuten ließen.
Was beabsichtigt Putin?
Mal schien der russische Präsident in den vergangenen Monaten radikalen Nationalisten und Hardlinern wie dem Gründer der Wagner-Truppe, Jewgeni Prigoschin, oder dem Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, den Rücken zu stärken. Dann wieder den von ihnen scharf kritisierten Führungskräften im Verteidigungsministerium.
Putin sei ein sehr konservativ denkender Mensch, meint der Blogger Majkl Naki in seinem YouTube-Kanal: "Wenn er denken würde, dass zumindest im Ansatz alles nach Plan läuft, würde er keine Änderungen vornehmen. Er bewegt Betten hin und her, um ein anderes Ergebnis zu erzielen."
Die Strategie bleibt nebulös
Vielleicht braucht es Verantwortliche für militärische Misserfolge. Vielleicht sollen so interne Machtkämpfe im Militärsektor befriedet werden. Eine wirkliche Strategie ist nicht zu erkennen.
Sicher ist nur, dass die Kritik aus einschlägigen militärischen und nationalistischen Kreisen vom Kreml und Oberbefehlshaber Putin, der nicht kritisiert wird, goutiert wird. Sonst wäre es damit längst vorbei.
Schon ein leeres Blatt Papier mit acht Sternchen reicht aus, um wegen Diskreditierung der Armee verurteilt zu werden. Denn selbst die acht Buchstaben-Platzhalter für ein vermeintliches "Nein zum Krieg", der so nicht heißen darf, ist tabu.