Krieg gegen die Ukraine Berichte über Giftgasangriff in Mariupol
Im Kampf um die Hafenstadt Mariupol gibt es Berichte über einen Giftgasangriff. Die ukrainische Präsident Selenskyj hatte zuvor vor dem russischen Einsatz von Chemiewaffen gewarnt. Der Westen reagiert besorgt.
Kurz nach einer russischen Drohung mit dem Einsatz von Chemiewaffen in Mariupol hat das ukrainische Asow-Regiment von einem angeblichen Angriff mit Giftgas berichtet. Eine unbekannte Substanz sei mit einer Drohne über der seit langem umkämpften Stadt abgeworfen worden, teilte Asow am Abend in seinem Telegram-Kanal mit. Der öffentliche-rechtliche ukrainische TV-Sender Suspilne berichtete aber, es gebe keine Bestätigung durch offizielle Stellen.
Zwar hielten Militärquellen die Wahrscheinlichkeit eines Chemiewaffenangriffs durch die russische Seite für "sehr hoch". Der Sender bemühe sich um eine Bestätigung durch Militär oder Geheimdienst. Den Asow-Angaben zufolge litten die getroffenen Personen unter Atembeschwerden und Bewegungsstörungen.
Petro Andryuschtschenko, ein Berater des Bürgermeisters von Mariupol, betonte auf Telegram ebenfalls, dass "die Informationen über den Chemiewaffenangriff derzeit nicht bestätigt sind". "Details und Klarstellungen" wurden zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen. Er warte auf "offizielle Informationen vom Militär".
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Separatisten bringen Chemiewaffen ins Gespräch
Nach Angaben westlicher Militärexperten spitzt sich die Lage in Mariupol zu. Russische Kräfte hätten die ukrainischen Verteidiger zurückgedrängt. Die Ukrainer haben sich unter anderem in dem Stahlwerk Asowstal verschanzt. Der Militärsprecher der prorussischen Separatisten von Donezk, Eduard Bassurin, sagte, eine Einnahme der unterirdischen Befestigungen auf dem Fabrikgelände wäre zu verlustreich. Deshalb solle man auf chemisch bewaffnete Truppen setzen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verwies in seiner nächtlichen Videoansprache auf diese Drohung. "Wir nehmen das höchst ernst." Ein möglicher Chemiewaffenangriff sollte für ausländische Staaten Anlass sein, noch härter auf die russische Aggression zu reagieren, sagte Selenskyj. Russland hat im Syrien-Krieg nicht selbst Chemiewaffen eingesetzt, aber den nachgewiesenen Abwurf von Bomben mit Giftgas durch die syrische Regierung gedeckt und abgestritten.
Westen warnt Moskau vor Einsatz von Chemiewaffen
Die westlichen Staaten haben Moskau vor ernsthaften Konsequenzen gewarnt, falls es in dem vor fast sieben Wochen begonnenen Krieg Chemiewaffen oder andere Massenvernichtungswaffen einsetzen sollte. Nach den Berichten aus Mariupol schrieb die britische Außenministerin Liz Truss auf Twitter, man arbeite mit Partnern daran, Details zu verifizieren. Jeder Einsatz solcher Waffen wäre eine Eskalation, für die man den russischen Präsidenten Wladimir Putin und seine Führung zur Verantwortung ziehen werde.
Auch ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums sagte, es gebe keine Bestätigung für den Einsatz von Chemiewaffen. Sollten die Berichte stimmen, wäre das sehr beunruhigend. Es passe zu Befürchtungen, dass Russland in der Ukraine chemische Mittel zur Unterdrückung großer Menschenmengen einsetzen könnte, so etwa Tränengas gemischt mit anderen Chemikalien, sagte Sprecher John Kirby.
Bürgermeister: Schon mehr als 10.000 tote Zivilisten in Mariupol
In der seit mehr als einem Monat von russischen Truppen belagerten Stadt Mariupol sind nach Angaben des Bürgermeisters mittlerweile bereits mehr als 10.000 Zivilisten getötet worden. Wadym Boitschenko nannte die Zahl am Montag in einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur AP. Die Straßen der Stadt seien nach wie vor bedeckt mit Leichen, sagte er. Es könnten also auch mehr als 20.000 Tote sein. Erst am vergangenen Mittwoch hatte Boitschenko die Zahl der Toten in seiner Stadt mit mehr als 5000 beziffert. Unabhängig konnten seine Angaben nicht überprüft werden.
Weiß schraffiert: Vormarsch der russischen Armee. Grün schraffiert: von Russland unterstützte Separatistengebiete. Krim: von Russland annektiert.
In Mariupol hat es einige der brutalsten Angriffe Russlands in der Ukraine gegeben. Boitschenko sagte, die russischen Soldaten hätten mobile Krematorien mitgebracht, mit denen sie Leichen verschwinden lassen würden. Der Bürgermeister warf den Russen vor, humanitäre Korridore in die Hafenstadt zu blockieren, um das Massaker an Zivilisten in Mariupol zu vertuschen.
Der Chef der Separatisten-Regierung in Donezk in der Ostukraine, Denis Puschilin, behauptete derweil, die ukrainische Regierung habe die Kontrolle über den Hafen von Mariupol verloren. Der Hafen befinde sich jetzt unter der Kontrolle der Separatisten, sagte Puschilin dem russischen Staatsfernsehen, wie russische Nachrichtenagenturen meldeten. Die Aussage konnte zunächst nicht bestätigt werden. Boitschenko sagte, es werde weiter im Hafen gekämpft.
Selenskyj: Uns fehlen Waffen zur Befreiung von Mariupol
Der Ukraine fehlen nach Worten Selenskyjs die schweren Waffen, um Mariupol zu befreien. "Wenn wir Flugzeuge und genug schwere gepanzerte Fahrzeuge und die nötige Artillerie hätten, könnten wir es schaffen", sagte er in seiner Videoansprache.
Er sei zwar sicher, dass die Ukraine irgendwann die Waffen bekommen werde, die sie brauche. "Aber nicht nur Zeit geht verloren, sondern auch das Leben von Ukrainern". Dafür seien diejenigen verantwortlich, die nicht jetzt die Waffen lieferten.
Der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj bekräftigte am Montag, die Verbindung zu den Verteidigern Mariupols sei nicht abgerissen. Er reagierte damit auf angebliche Vorwürfe der dort eingesetzten Marineinfanteristen, es gebe seit zwei Wochen keinen Kontakt mehr zur ukrainischen Militärführung.
Bevölkerung in Charkiw vor Streuminen gewarnt
Derweil gehen die Angriffe auch anderswo im Land weiter: Wie der örtliche Gouverneur mitteilte, wurden im Gebiet Charkiw durch russischen Artilleriebeschuss mindestens acht Zivilisten getötet. Die Behörden warnten die Bevölkerung zudem vor Landminen, die auf die nordöstliche Stadt abgeworfen worden seien. Am Montag sperrten die Sicherheitskräfte ein Gebiet im Osten von Charkiw ab, um eine Reihe kleiner, in Wohnstraßen verstreuter Sprengsätze zu beseitigen.
Der Leiter der ukrainischen Minenräumungseinheit, Oberstleutnant Nikolaj Owtscharuk, sagte, es handele sich um PTM-1M-Minen aus Plastik, die mit Zeitzündern detonierten und von den sowjetischen Streitkräften in Afghanistan weithin eingesetzt wurden. Streuminen wie die PTM-1M-Minen sind nach dem Ottawa-Abkommen über Antipersonenminen wegen der Gefahr für die Zivilbevölkerung verboten. Reuters konnte nicht unabhängig bestätigen, um welche Minen es sich in Charkiw handelte.