Ukraine verteidigt sich gegen Russland Wie Experten die Gegenoffensive bewerten
Die ukrainische Gegenoffensive hat begonnen und Russland leistet erbitterten Widerstand. Dennoch meldet Kiew erste Erfolge und zeigt der Weltpresse einige zurückeroberte Dörfer. Militärexperten verfolgen die Kampfhandlungen. Ihr Fazit - unterschiedlich.
Von vielen Häusern sind fast nur noch Gerippe übrig. In manchen Ruinen liegen noch die Leichen russischer Soldaten, als die ukrainische Armee die Weltpresse durch die kleinen Dörfer im Süden und Osten des Landes führt. Knapp anderthalb Jahre waren die Siedlungen russisch besetzt - seit wenigen Tagen sind sie nun wieder unter Kontrolle der ukrainischen Armee.
Und das möchten die Ukrainer zeigen. "Diese Gegenoffensive ist notwendig, obwohl wir alle wissen, dass der Preis dafür das Leben unserer Kameraden ist", sagt ein Soldat mit dem Decknamen Winnie der Nachrichtenagentur AFP.
Ein ukrainischer Soldat läuft durch ein Kulturzentrum in dem kürzlich zurückeroberten Dorf Blahodatne in der Region Donezk.
Beobachter sehen Gegenoffensive als entscheidend
In seiner Neujahrsansprache hatte Wolodymyr Selenskyj das Jahr 2023 zum "Jahr des Sieges" erklärt. Sechs Monate später aber rücken die ukrainischen Truppen nur langsam vor. Ben Hodges, ehemaliger Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa und ausgewiesener Optimist, meint dennoch, die Ukraine könne sogar die Halbinsel Krim noch in diesem Sommer zurückerobern. Wenn der Westen denn die benötigten Waffen liefern würde.
Viele Beobachter sind weitaus skeptischer. Aber, dass die jüngst begonnene Gegenoffensive der ukrainischen Truppen den weiteren Verlauf des Krieges entscheidend prägen könnte, darin sind sich viele einig.
Schraffiert: von Russland besetzte Gebiete
Widerstand und heftige Kämpfe erwartet
Etwa 100 Quadratkilometer im Süden und Osten des Landes sollen nach offiziellen ukrainischen Angaben bereits zurückerobert worden sein. Nur ein kleiner Bruchteil, des von Russland besetzten Territoriums. Es sei zu früh den Erfolg der Gegenoffensive zu bewerten, sagen westliche Militärexperten. Man müsse über das aktuelle Tempo nicht enttäuscht sein, meint General a.D. Erhard Bühler im MDR-Podcast "Was tun, Herr General". Die Gegenoffensive befinde sich in einer sehr frühen Phase und die Ukrainer würden auf anhaltenden Widerstand der russischen Streitkräfte treffen.
Das bestätigt auch die stellvertretende ukrainische Verteidigungsministerin Hanna Maljar. "Der Feind gibt seine Stellungen nicht einfach auf", betont Maljar auf einer Pressekonferenz in Kiew. Auch der amerikanische Generalstabschef Mark Milley erwartet heftige Kämpfe. Wahrscheinlich werde die Operation viel Zeit in Anspruch nehmen, "und das zu hohen Kosten".
Viel Vorbereitung, kleine Erfolge
Monatelang konnten sich die russischen Truppen auf den Angriff der Ukraine vorbereiten. Auch weil der Westen mit der Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern lange gezögert habe, kritisiert Nico Lange von der Münchner Sicherheitskonferenz. Die russischen Soldaten haben die Zeit genutzt und komplexe Verteidigungslinien gebaut, enge Minenfelder gelegt und Verteidigungsstellungen ausgehoben.
Angesichts dieser Hindernisse verlaufe der Vormarsch der Ukrainer erfolgreich, meint dagegen Oleksij Hetman, Major der ukrainischen Reserve. "Schon ein Vorrücken von ein paar Hundert Metern ist ein Erfolg." Seien die Verteidigungslinien erst einmal durchbrochen, werde es schneller gehen, so Hetman. Zeitlich sei man von diesem Moment allerdings noch weit entfernt, meinen viele Beobachter.
"So ein Angriff gegen eine vorbereitete Verteidigung ist nicht ohne Risiko", sagt der ehemalige General Erhard Bühler. Die russischen Truppen hätten gezeigt, dass sie erfolgreich verteidigen, Angriffe zum Stehen bringen könnten und dann zum Gegenangriff ansetzten. Das bestätigt auch der ukrainische Soldaten Winnie gegenüber den Journalisten der AFP: "Es hat zwei Tage gedauert, das Gebiet zu räumen, weil sie viele Unterstände und Durchgänge hatten. Es war wirklich schwierig für unsere Jungs, die Russen von hier zu vertreiben."
Angaben zu Kriegsverlauf, Beschuss und Opfern durch offizielle Stellen der russischen und der ukrainischen Konfliktparteien können in der aktuellen Lage nicht unmittelbar von unabhängiger Stelle überprüft werden.
Ukraine: "Wir müssen die Lufthoheit übernehmen"
Eine Herausforderung für die Ukrainer ist der Einsatz von Kampfhubschraubern, Kampfflugzeugen und Drohnen auf russischer Seite. Ihr Einsatz hat wahrscheinlich auch zu den ersten dokumentierten Angriffen auf westliche Kampfpanzer geführt. Russische Propagandamedien nutzten die Bilder sofort, um einen schmerzhaften Verlust auf ukrainischer Seite zu demonstrieren. Mittlerweile ist aber bekannt, dass es den Ukrainern gelang, zumindest einen Teil der beschädigten Technik vom Schlachtfeld zu bergen.
"Wir müssen die Lufthoheit übernehmen", sagt Oleksij Hetman von der ukrainischen Reserve. "Wenn die Truppen aus der Luft gedeckt werden und der Feind nichts tun kann, bietet uns das zusätzliche Möglichkeiten." Dafür benötige es die von der Ukraine seit langem geforderten modernen Kampfflugzeuge. Denn durch den regelmäßigen Beschuss von Städten weit weg der Front bindet Russland die ukrainische Flugabwehr. Die Systeme können daher nicht zu Schutz der Bodentruppen an der Front eingesetzt werden. "Leider macht sich der Terror gegen die Zivilbevölkerung für Russland bezahlt. Das ist das Hauptproblem in dieser Phase", sagt Nico Lange.
Wie ist die aktuelle Situation an der Front?
Über die tatsächliche Lage an der Front ist indes wenig bekannt. Beobachter gehen davon aus, dass Nachrichten mit einigen Tagen Verzögerung an die Öffentlichkeit gelangen. Für eine Analyse sei es daher viel zu früh, meinen viele. "Sie halten Funkstille darüber, wo sie sind und wie die Dinge im Vergleich zu früheren Operationen laufen. Sie versuchen, die operative Sicherheit so weit wie möglich aufrechtzuerhalten", sagt der amerikanische Militärexperte Michael Kofman in seinem Podcast "War on the Rocks".
Auch die aktuellen Angriffe an mehreren Frontabschnitten könnten ein Täuschungsmanöver sein, sagt Oleksij Melnyk. "Das größte Rätsel ist für die Russen aktuell, wo der Hauptschlag erfolgen soll." Währenddessen werden Soldaten und die Bevölkerung auf Geheimhaltung eingeschworen. "Pläne lieben Schweigen" heißt ein Video der ukrainischen Regierung, das Soldaten zeigt, die sich vermummt und hochgerüstet in einer Geste des Schweigens den Finger auf die Lippen legen. Es wirkt nahezu wie ein Filmtrailer zum Krieg.
Weniger filmreif ist indes die Realität. Der Preis des Krieges wird vor allem in den Krankenhäusern des Landes sichtbar, wo junge Männer mit Verbrennungen, abgerissenen Gliedmaßen und Splitterwunden behandelt werden. "Wir haben nicht genug Artillerie. Die Front ist sehr lang. Überall, wo wir versuchen anzugreifen, warten sie mit ihrer Artillerie auf uns“, klagt Militärarzt Maxim gegenüber dem Schweizer Fernsehen.