Region Mykolajiw nach Dammbruch "Uns kann nichts mehr schocken"
Menschen und Tiere leiden nach dem Dammbruch in der Südukraine. Bewohner der Region Mykolajiw berichten, wie sie den Alltag nun meistern - und was die Flut für Auswirkungen etwa für die Kühe hat.
Irina und Viktoria sitzen am Strand des Südlichen Bugs in Mykoljaiw. Rund 70 Kilometer nördlich von Cherson gibt es auch in diesem Gebiet Rückstaus und Überschwemmungen. Tische und Bänke des kleinen Strandcafés, Sonnenschirme, Schaukeln und ein Teil des Strands stehen noch unter Wasser.
Die beiden Frauen in gemusterten Sommerkleidern sitzen auf einer etwas zurückgesetzten Bank und plaudern angeregt. Die leichten Wellen bewegen auch einen überspülten Papierkorb hin und her. "Dieses Quietschen nervt mich, aber ich kann es wegen des Wassers nicht ändern. Zuerst dachten wir, es wäre ein Vogel."
"Kein Mensch weiß, wann er stirbt"
Die beiden Frauen lachen, sie wirken entspannt, und doch sehen sie müde aus. Bevor die ukrainische Armee im November vergangenen Jahres einen Teil der Region Cherson zurückeroberte und sich dadurch die Frontlinie von Mykolajiw weg verschob, war die Stadt von der russischen Armee stark beschossen worden. Auch die Stadt am Südlichen Bug wurde nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms am Dnipro im Süden des Landes teilweise überschwemmt. "Uns kann nichts mehr schocken", meint Viktoria trocken. "Wovor sollen wir uns fürchten? Niemand weiß, wann er sterben wird", sagt sie.
Am Anfang hätten sie große Angst gehabt, bei Luftalarm und den schrecklichen russischen Angriffen. "Ich habe innere Abwehrkräfte entwickelt", sagt Irina.
Bewohner aus dem umfluteten Dorf Afanasijiwka bringen ihren Besitz ans andere Ufer.
Dorf Afanasijiwka von Wasser umgeben
Rund 60 Kilometer weiter östlich nahe Snihuriwka fährt ein Schlauchboot des ukrainischen Katastrophendienstes nach Afanasijiwka. Vorbei an meterhoch überfluteten Häusern, Zäunen oder Bäumen. Das kleine Dorf ist von mehreren Seen umgeben und liegt zudem am Fluss Inhulets. Dieser hat Brücken und Dämme und damit alle Zugänge überflutet.
Das Schlauchboot und ein paar kleine Fähren fahren nun hin und her. Sie holen die Bewohnerinnen und Bewohner ab, haben aber auch Autos, Möbel, Computer, Bücherkisten, Koffer und vollgestopfte Taschen an Bord. Im Gegenzug fahren sie Medikamente oder Lebensmittel in das umflutete Dorf hinüber.
Fast die Hälfte der Einwohner bisher geblieben
Am Ufer werden frisches Weißbrot und große Trinkwasserflaschen verteilt Die helle Mittagssonne sticht, und ein paar alte Frauen in Arbeitskleidern und Kopftuch warten im Schatten eines Baums, bis sie aufgerufen werden.
Eine resolute Dame mit Brille ruft sie auf und hakt ihre handgeschriebene Liste ab. "In Afanasijiwka leben rund 370 Menschen. Obwohl sie vom Wasser eingeschlossen sind, ist mehr als die Hälfte der Menschen im Dorf," erzählt sie. Auch mehr als 20 Kinder seien mit ihren Eltern geblieben.
Nach dem Dammbruch werden Kühe in Afanasijiwka mit einer kleinen Fähre auf die andere Uferseite gebracht.
Überschwemmte Gärten und Keller
Auch Lida Ivanowna bringen keine zehn Pferde aus Afanasijiwka weg. "Ich habe die russische Besatzung überlebt", sagt sie. Nun könne ihr nichts mehr Angst machen. Sie hat ihr Brot und das Trinkwasser auf den Gepäckträger ihres alten Fahrrads geklemmt und schiebt es nun über die steinige Dorfstraße. Vorbei an grasenden Ziegen, verfallenden Häusern in den überfluteten Teil des Dorfes. "Lidia, bist du da?", ruft sie in einen Hof, der halb im Wasser liegt. Eine alte Dame bittet herein, sie ist deprimiert.
Der Keller ist vollgelaufen und ihr großer Garten mit Kartoffeln, Zwiebeln und Tomaten ist im Wasser versunken. "Jetzt ist alles weg", bedauert sie. Die kostbare Ernte ist damit hin, was bei den schmalen Renten für alte Menschen wie Lidia eine zusätzliche Bürde bedeutet.
Lida Iwanovna schimpft, während sie weiter durch das Dorf stapft. Sie ist todunglücklich, sie schwitzt, sie lebte monatelang unter russischer Besatzung, sagt sie. Das Leben sei weiter sehr ungewiss und da wird sie grundsätzlich: "Wir lebten friedlich und alle hatten genug. Und dann kamen die 'russischen Brüder', wie sie sich nennen und sagten, sie würden uns retten." Ivanowna schnaubt. Die Besatzer seien in jedes Haus gegangen und hätten gefragt, warum sie im Dorf gut leben würden. "Ich sagte, man muss eben arbeiten. Man muss mit den Händen mit der Erde arbeiten. Man muss den Boden lieben."
Tiere leiden auch
Am Ufer warten einige auf die Überfahrt hinüber aufs feste Land. Auch ein paar braune Kühe stehen weit über die Hufe im Wasser und warten. Sie rupfen scheinbar gleichmütig das Grün von den Bäumen, die ebenfalls unter Wasser stehen. "Die Tiere leiden", sagt ein alter, hagerer Mann fast liebevoll: "Manche sind sehr empfindlich. Sie muhen leise und suchen herum. Jemand sagte, dass ihnen sogar Tränen aus den Augen liefen. Sie werden aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen und woanders hingebracht und das macht ihnen Angst." Dann kommt die kleine Fähre, die die Tiere erst einmal auf eine Wiese am gegenüberliegenden Ufer bringt.
Auch für Viktoria und Irina am Strand von Mykolajiw ist der Stress des russischen Angriffskriegs nun noch belastender geworden. Den Moment auf der Bank möchten sie dennoch genießen, und Viktoria versucht es es mit Humor. "Das Ufer ist eigentlich trocken, denn nur dieser Abschnitt ist überflutet. Aber es ist doch toll. Ein Stück Venedig, das ist auch nicht schlecht."