9. Mai in der Ukraine Im Herzen ein Riss
In der Ukraine wird am 8. Mai an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert - ein Zeichen, sich von kommunistischen Ritualen zu lösen. Für viele Menschen hat der 9. Mai - der "Tag des Sieges" - weiterhin eine große Bedeutung.
Issak Nowoselezykj steht am Gedenkstein für 5000 jüdische Kinder, die in Winnitzja während der deutschen Besatzung ermordet wurden. Der helle Marmorstein hat in der Mitte ein Loch in der Form des Davidsterns. Jeder Jude trage diesen Stern im Herzen, das der Krieg zerrissen habe, sagt er und verweist auf die Inschrift, die auf ukrainisch und hebräisch ist.
"Hier wurden Kinder und damit die Hoffnung des jüdischen Volkes zerstört" steht dort. Künftige Musiker, Ärzte oder Professoren hätten die toten Kinder werden können. "Und wir fragen die Deutschen: Warum habt ihr sie getötet? So wie wir jetzt die Russen fragen: Warum tötet ihr Kinder in der Ukraine? Warum bringt ihr sie nach Russland und macht Gott weiß was mit ihnen?"
Nowoselezkyj leitet die jüdische Gemeinde in Winnitzja am Südlichen Bug, ein Fluss im westlichen Teil der Ukraine. Der agile weißhaarige Mann im rot gemusterten Strickpullover ist 75 und beileibe kein Freund sowjetischer Traditionen oder gar Russlands.
Issak Nowoselezykj von der jüdischen Gemeinde in Winnitzja und die NS-Überlebende Raissa Tschernowa.
Siegesfeier statt Versöhnung?
An das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert sich Isaak Nowoselezkyj dennoch bewusst nicht am 8., sondern am 9. Mai. Jahrelang habe man ihm und seiner Generation beigebracht, dass der 9. Mai der Tag des Sieges sei, an dem der Krieg zu Ende gewesen sei. "Meine Meinung kann auch an meinem Alter liegen, denn all die Jahre war es so. Damals haben wir nicht über Versöhnung gesprochen, sondern über den Tag des Sieges. Die Versöhnung kam erst viel später. Jede Generation schreibt eben die Geschichte neu."
Am 8. Mai wird in der Ukraine an das Ende des Zweiten Weltkriegs erinnert. Der 9. Mai ist bisher weiter der Tag des Sieges über den Nationalsozialismus im Zweiten Weltkrieg, an dem der Opfer gedacht wird und der nicht mehr "Großer Vaterländischer Krieg" genannt wird.
Selenskyj erlässt neuen "Europatag"
Nach einem neuen Erlass von Präsident Wolodymyr Selenskyj ist der 9. Mai in diesem Jahr zum ersten Mal auch "Europatag", der zuvor an jedem dritten Samstag im Mai begangen wurde. Gefeiert werde die Einheit der Europäer, die den Nazismus vernichtet hätten und Russland besiegen würden, so der Präsident.
Für die offizielle Gedenklinie ist das staatliche Institut für Nationale Erinnerung in Kiew zuständig. Das Ganze sei ein Prozess, konstatiert dessen Vizedirektor Wolodymyr Tylischtschak. Laut Umfragen seien immer mehr Menschen der Meinung, dass der Sieg über den Nationalsozialismus am 8. Mai gefeiert werden solle und immer weniger wollten den 9. Mai als Feiertag.
"Das heißt, dieser Prozess findet in der Gesellschaft statt. Er wurde durch die russische Großinvasion zwar beschleunigt, aber er hat schon lange begonnen und dauert noch an."
Mit der Unabhängigkeit hat sich die Erinnerungskultur verändert, so der Historiker Anatolyj Podolsky.
Unabhängigkeit änderte Erinnerungskultur
Fünf Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer hätten in der Roten Armee gekämpft, sagt der Historiker Anatolyj Podolsky. Doch die Erinnerungskultur habe sich mit der Unabhängigkeit grundlegend geändert, so der Direktor des regierungsunabhängigen Zentrums für Holocauststudien in Kiew. 32 Jahren nach dem Ende des totalitären Sowjetimperiums, nach der "Revolution der Würde" 2014 auf dem Maidan, wo die Menschen um Bürger- und Menschenrechte gekämpft hätten.
"Unsere Zukunft hängt davon ab, wie gut wir die Vergangenheit analysieren", sagt Podolskyj. Heute sei die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg vor allem die Erinnerung an die Opfer. "Zu Sowjetzeiten und in der Russischen Föderation wird nur des Heldentums gedacht, und derer, die gekämpft haben. Für die Opfer, die in Gefangenschaft gerieten, sogenannte 'Ostarbeiter', Juden oder Roma, interessierte man sich nicht."
Vergleiche von damals und heute
Morden, foltern, vergewaltigen, entführen, berauben oder demütigen - die Liste russischer Verbrechen in der Ukraine ist lang. Könnten sie die Verbrechen der Deutschen im Zweiten Weltkrieg in der Ukraine überlagern? Historiker Anataloy Podolsksy glaubt das nicht - und Isaak Nowoselezkyj sieht das ähnlich.
"Diese Verbrechen, diese Gräueltaten der Deutschen zu vergessen, ist einfach unmöglich. Aber Menschen, die diesen Krieg überlebt haben, ziehen eben Vergleiche zwischen damals und heute. Und es gibt den Ausdruck, dass Hitler im Vergleich zu Putin ein Waisenknabe war", sagt Nowoselezkyj.
Sein Blick wandert vom Kinderdenkmal zu einer grauen Stele. Diese erinnert an schätzungsweise 20.000 Jüdinnen und Juden, die von den Deutschen in Winnitzja getötet wurden. "Dort hinten liegen noch viel mehr Ermordete im Boden", sagt Nowoselezkyj und zeigt auf ein angrenzendes Waldstück.
Festgehaltenes Verbrechen
Allein im Gebiet Winnitzja gebe es bis zu 20 Tötungsorte ohne Hinweis auf die deutschen Verbrechen dort, sagt Faina Winokurowa vom Regionalen Staatsarchiv der Stadt Winnitzja. Die elegante alte Dame ist mit Isaak Nowoselzkyj verheiratet und Expertin für den Holocaust in der Region Winnitzja.
Ein jüdischer Ukrainer wird 1941 in Winnitzja von deutschen Besatzern erschossen. Dieses Foto gehört zu den bekanntesten des Holocausts.
Vor ihr liegt eines bekanntesten Fotos des Holocaust - aufgenommen 1941 von den deutschen Tätern aus den berüchtigten Einsatzgruppen und der SS. Das Schwarz-Weiß-Foto zeigt einen mageren jüdischen Ukrainer mit braunen Haaren, der direkt am Rand einer Leichengrube hocken muss. Ein uniformierter Deutscher hält ihm die Pistole an den Kopf und wird gleich abdrücken. Die Grube ist schon voller Leichen, sagt Faina Winokurowa, die viel über den jungen Mann auf dem Foto nachgedacht hat.
Er wusste, wohin er ging und hat nichts mehr erwartet. Höchstens vor dem Schuss in die Grube zu fallen. Ich habe einen Überlebenden namens Katz interviewt, der lebend aus der Hinrichtungsgrube herausgekommen ist. Seine Mutter hatte ihn mit dem Körper geschützt.
Für sie ist der 9. Mai ein Sieg über die Gewalt, und sie möchte ihn behalten. Vielleicht sei im russischen Angriffskrieg keine passende Zeit, meint sie, aber: "Warum wurde der Tag aufgegeben? Ich kann das nicht verstehen."
Der renommierte Holocaust-Experte Anatolyj Podolskyj sieht es anders, die Meinung spricht er jedoch niemandem ab. "Das ist eben der Punkt. Wir können unterschiedliche Meinungen haben. Denn die Ukraine ist nicht Putins Diktatur, in der Menschen für ihre Meinung getötet werden."