Türkei-Wahlen "Eine Ohrfeige, die Erdogan als Erfolg verbucht"
Nach dem ersten Wahlgang in der Türkei sieht der Journalist Arikan Präsident Erdogan in der Favoritenrolle. Entscheidend dürfte sein, welche Angebote er und Gegenkandidat Kilicdaroglu den Ultranationalisten zum Umgang mit Flüchtlingen machen.
tagesschau.de: Wie haben Sie in Ankara die Wahlnacht erlebt?
Erkan Arikan: Ich habe die Wahlnacht sehr widersprüchlich erlebt. Beide Seiten, Regierung und Opposition, haben die ganze Nacht geglaubt, dass sie den Sieg für sich beanspruchen können. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu ist mit anderen Zahlen an die Öffentlichkeit getreten als die unabhängige Nachrichtenagentur Anka.
Kemal Kilicdaroglu und sein Umfeld haben die Zahlen früh angezweifelt. Ich war den ganzen Abend bei der AKP und habe erlebt, wie sehr man dort die Zahlen gefeiert hat: Seine Anhänger haben dort den ganzen Tag und bis in die Nacht ausgeharrt und auf ihn gewartet. Erdogan hat dann in der Nacht den Sieg für sich im zweiten Wahlgang vorausgesagt.
Erkan Arikan ist Leiter der türkischen Redaktion der Deutschen Welle und Mitglied der Chefredaktion des Auslandssenders.
Zahlen gingen erst an Erdogan
tageschau.de: Warum werden die Zahlen angezweifelt?
Arikan: Ein Vorwurf ist, dass nicht die Hohe Wahlkommission zuerst über die Zahlen informiert wurde, sondern der Präsidialpalast und dass Anadolu ganz in seinem Sinne informiert hat. Je mehr Informationen direkt aus der Hohen Wahlkommission kamen, desto geringer wurde der Abstand zwischen Erdogan und Kilicdaroglu. Auch wurden am Anfang nur die Ergebnisse aus AKP-Hochburgen mitgeteilt. Das hat auf beiden Seiten eine bestimmte Stimmung geschaffen.
Wie valide die nun vorliegenden Ergebnisse sind, werden wir erst wissen, wenn die Hohe Wahlkommission spätestens am Mittwoch ihre Ergebnisse bekanntgeben wird.
tagesschau.de: Es gibt den Vorwurf, dass die Wahl manipuliert wurde. Was ist Ihr Eindruck?
Arikan: In den sozialen Netzwerken kursiert ein Video, das zeigen soll, wie in einem Wahllokal Wahlzettel schon vorab für Erdogan abgestempelt werden. Ich kann das selbst nicht bestätigen. Von einem unserer Reporter aus dem Erdbebengebiet in Ost-Anatolien hören wir, dass vereinzelt Wähler sich beschwert haben, sie seien weggeschickt worden, weil ihr Name nicht in den Wahllisten vermerkt gewesen sei. Es dürfte sich hier aber, wenn überhaupt, um insgesamt sehr geringe Zahlen gehandelt haben, die den Wahlausgang nicht entscheidend beeinflusst haben dürften.
Unterstützung der regierungsnahen Medien
tagesschau.de: Sind die rund 49 Prozent, die die Wahlbehörde für Erdogan angibt, ein Erfolg für ihn?
Arikan: Ich muss vorausschicken, dass man den Meinungsforschungsinstituten in der Türkei nur wenig Glauben schenken darf. Vor der Wahl gab es mehrere Umfragen, in denen Kilicdaroglu fünf Prozent Vorsprung hatte. Nun haben wir einen Vorsprung von Erdogan von fast fünf Prozent.
Erdogan hat alle vergangenen Wahlen im ersten Wahlgang gewonnen. Insofern ist das Ergebnis, so wie es bislang vorliegt, zwar eine kleine Ohrfeige für ihn, die er aber wie einen großen Erfolg verbucht. Erdogan hat mit seinem Charisma und auch mit der Unterstützung der regierungsnahen Sender gepunktet. Der Sender TRT hat insgesamt in einem Umfang von 48 Stunden über seinen Wahlkampf berichtet und über Kilicdaroglu nur 28 Minuten - und das zumeist negativ.
Man ging hier allgemein davon aus, dass das verheerende Erdbeben, die marode und desaströse Wirtschaftssituation und der massive Braindrain von sehr gut ausgebildeten Universitätsabgängern dazu führen würde, dass der Oppositionskandidat gleich in der ersten Runde gewinnen könnte. Nun ist es anders gekommen, und es ist interessant, dass dies hier niemand hat kommen sehen.
Die Gründe für Erdogans Erfolg
tagesschau.de: Warum hat es für Kilicdaroglu nur zu rund 45 Prozent gereicht?
Arikan: Zum einen haben die nationalen und ultranationalen Parteien einen sehr erfolgreichen Wahlkampf gemacht, in dem es vor allem um den weiteren Umgang mit den Flüchtlingen in der Türkei ging. Das hat sich gegen Kilicdaroglu gerichtet, dem sie vorwarfen, er würde das, wie sie es nennen, "Flüchtlingsproblem" nicht lösen.
Außerdem sind die jungen Wähler offenbar nicht im erhofften Maße an die Wahlurnen gegangen. Hinzu kommt, dass einige Wähler nach dem kurzfristigen Rückzug des Kandidaten Muharrem Ince ihren Wahlzettel ungültig gemacht oder dennoch für ihn gestimmt haben.
Zudem ist das Bündnis von sechs Parteien, das hinter ihm steht, für viele Wähler sehr instabil. Ich habe in den vergangenen Tagen immer wieder die Einschätzung vernommen, dass dieses Sechser-Bündnis bald wieder auseinanderbrechen könnte. Da lag es nahe, am Altbekannten festzuhalten, anstatt auf eine Konstellation zu setzen, die möglicherweise zu noch mehr Instabilität führt.
Hohe Wahlbeteiligung im Ausland
tagesschau.de: Kann man schon abschätzen, welche Rolle die Stimmen der Auslandstürken insbesondere in Deutschland gespielt haben?
Arikan: Das kann man noch nicht, weil die Stimmen der Auslandstürken erst ausgezählt werden, wenn die Stimmen in der Türkei ausgezählt worden sind. Es ist aber eine exorbitant hohe Wahlbeteiligung der Auslandstürken zu verzeichnen. Sowohl die Regierung als auch die Opposition haben es geschafft, die Menschen zu mobilisieren. Allein in Deutschland soll die Wahlbeteiligung um 20 Prozent höher als vor fünf Jahren gelegen haben.
Stimmungsmache gegen Flüchtlinge
tagesschau.de: Es gab einen dritten Kandidaten, den Nationalisten Sinan Ogan, der auf rund fünf Prozent gekommen ist. Welche Rolle kann er jetzt noch spielen?
Arikan: Auch wenn dieser Begriff in den kommenden 14 Tagen sehr inflationär gebraucht werden dürfte: Ogan ist jetzt der Königsmacher. Er und seine Gefolgsleute werden am Ende das Zünglein an der Waage für den einen oder den anderen Kandidaten sein. Ogan ist ein ehemaliger Abgeordneter der MHP, der mit seiner Partei gebrochen und im Wahlkampf immer gegen Erdogan gewettert hat. Aber ideologisch bleibt er ein Ultranationalist, der weiterhin so denkt wie die MHP.
Er hat die Flüchtlingsfrage extrem negativ in den Vordergrund gerückt und damit Stimmen eingefangen. Jetzt kommt es darauf an, was ihm Kilicdaroglu und Erdogan anbieten. Es wird sicher zu Gesprächen kommen, und dann muss man ihm irgendeine Zusage machen, damit er seine Wähler für den einen oder anderen Kandidaten in der Stichwahl mobilisiert.
Viele Türken wollen eine Rückkehr der Flüchtlinge
tagesschau.de: Kilicdaroglu hat ja schon angekündigt, dass er dafür sorgen werde, dass die syrischen Flüchtlinge freiwillig wieder nach Syrien zurückkehren. Wird das Ogan reichen?
Arikan: Kilicdaroglu will mit der syrischen Regierung verhandeln und die Flüchtlinge zu einer freiwilligen Rückkehr bewegen. Erdogan schlägt einen anderen Ton an und sagt, wir schicken die Flüchtlinge wieder zurück. Damit ist er näher an den Ultranationalisten, die die Flüchtlinge am liebsten in Busse setzen und über die Grenze bringen möchten.
In der Türkei leben 4,5 bis 5 Millionen Flüchtlinge - nicht nur aus dem Nachbarland. Und viele Türken wollen inzwischen, dass sie das Land verlassen. Damit haben die Ultranationalisten immer wieder gepunktet.
Profitiert von weiteren Kandidaten
tagesschau.de: Spricht das dafür, dass Erdogan als Favorit in die Stichwahl geht?
Arikan: Ich rechne damit, dass Erdogan die Stichwahl gewinnen wird, vielleicht sogar mit einem noch größeren Vorsprung als der, den er derzeit hat. Erdogan und die AKP sind auf eine Stichwahl vorbereitet, weil sie schon im Wahlkampf nicht mehr von einem Sieg im ersten Wahlgang gesprochen haben. Und für ihn war es eine Art Gottesgeschenk, dass es neben Kilicdaroglu zunächst zwei weitere Gegenkandidaten und zuletzt noch einen weiteren Gegenkandidaten gab - obwohl von Anfang an klar war: Es geht nur um Erdogan und Kilicdaroglu.
Ich befürchte, dass es danach einen "Braindrain 2.0" geben wird. Es hat in den Jahren 2017 bis 2020/2021 einen massiven Exodus von jungen Studierenden nach Deutschland, nach Europa gegeben, weil sie ihre Zukunft nicht mehr in der Türkei sahen. Es ist offensichtlich, dass sich das wiederholen wird, wenn Erdogan weiter regieren sollte.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de