Steinmeier in Finnland Neustart im Norden?
Im Umgang mit Russland hat Bundespräsident Steinmeier Fehler eingeräumt. Nun ist er nach Finnland gereist und ist dort dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj zum ersten Mal seit Kriegsbeginn offiziell begegnet - per Videoschalte.
Es ist Zufall und doch irgendwie symbolisch: Kurz bevor das Flugzeug des Bundespräsidenten abhebt, rollt eine russische Maschine über die Piste am Berliner Flughafen, direkt vorbei an gleich mehreren deutschen Regierungsfliegern.
Nicht nur Steinmeier, auch die Außenministerin, die Verteidigungsministerin und der Kanzler wollen an diesem Morgen von Berlin in die Welt fliegen. Und egal, wo die Reise hingeht: Russland begleitet wohl jeden und jede von ihnen.
Der Bundespräsident hat Anfang der Woche Fehler eingestanden im Umgang mit Russland, in der Bewertung von Putin, in der deutschen Ostpolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte - kurzum: eine "bittere Bilanz". Nun versucht er den Neustart. Eigentlich hätte die erste Auslandsreise seiner zweiten Amtszeit nach Polen gehen sollen, aber das musste Corona-bedingt verschoben werden.
Finnlands Neutralität bröckelt
Steinmeier reist also zunächst nach Finnland, zu einem EU-Partner, der mehr als 1300 Kilometer Grenze und eine lange Geschichte mit den Russen teilt. Im 19. und bis Anfang des 20. Jahrhunderts war das Land Teil des russischen Reichs, musste nach dem "Winterkrieg" von 1939/1940 große Gebiete an die Sowjetunion abtreten, um Frieden zu erreichen.
Finnland hält sich bis heute neutral, was Militärbündnisse angeht, um den mächtigen Nachbarn nicht zu provozieren. Doch diese Neutralität bröckelt. Erstmals spricht sich in Umfragen eine Mehrheit der Finnen für einen NATO-Beitritt aus, der finnische Präsident Sauli Niinistö bestätigt die Tendenz. Das Parlament muss entscheiden, vieles ist in Bewegung.
Selenskyj spricht im finnischen Parlament
Es eint Finnen und Deutsche, dass beide ihre Verteidigungspolitik gerade radikal umkrempeln müssen. Vielleicht auch deshalb lässt Russland pünktlich zum Besuch Steinmeiers ein bisschen die Muskeln spielen. Am Morgen seien russische Flugzeuge in den finnischen Luftraum eingedrungen, meldet das finnische Verteidigungsministerium. Am Mittag spricht die finnische Regierung von Hackerangriffen auf die Websites von Außen- und Verteidigungsministerium.
Da redet gerade ein anderer Präsident im finnischen Parlament: Wolodymyr Selenskyj. Auf seiner virtuellen Tour um die Welt ist er auch in Helsinki zugeschaltet. Selenskyj berichtet vom russischen Angriff auf den Bahnhof von Kramatorsk mit vielen Toten und Verletzten und bittet - ein weiteres Mal - um Waffen. Dass er damit schweres Geschütz meint, ist ziemlich klar.
Auch bei den Sanktionen macht er deutlich: Das reicht noch nicht. Statt "halbherziger Sanktionen" wünscht er sich einen "Sanktionscocktail", der sich anfühlt wie ein "Molotowcocktail".
Die Zeitenwende hat Steinmeier verpasst
Die Zeitenwende im Bundestag - die Scholz-Rede im Februar kurz nach Kriegsausbruch - hatte Steinmeier verpasst. Statt im Bundestag war er an diesem Tag in der Hamburger Elbphilharmonie für ein Benefizkonzert zugunsten von Obdachlosen.
Musik und Bilder aber spielten trotzdem in Berlin: Im Parlament umarmte sein Amtsvorgänger Joachim Gauck Andrij Melnyk. Der ukrainische Botschafter, der Steinmeier immer wieder angezählt hat, wurde minutenlang von den Abgeordneten beklatscht.
Auch als dessen Präsident Selenksyj im März per Videoschalte im Bundestag sprach, war der deutsche Bundespräsident nicht dabei. Er habe an diesem Tag, heißt es im Bundespräsidialamt, Geflüchtete besucht, die am Berliner Hauptbahnhof ankamen. Ein anderer Amtsvorgänger, Christian Wulff, saß im Parlament.
Erste "Begegnung" mit Selenskyj
Nun in Helsinki ist es soweit - die erste offizielle "Begegnung" Steinmeiers mit Selenskyj seit Monaten, die erste seit Kriegsbeginn - wenn auch nur per Bildschirm. Der ukrainische Präsident begrüßt den deutschen Bundespräsidenten, Deutschland direkt spricht er nicht an. Eine Interaktion gibt es nicht.
Zusammen mit Sauli Niinistö und den finnischen Parlamentariern applaudiert Steinmeier stehend am Anfang und am Ende. Was er denkt, welche Gefühle ihn in diesem Moment umtreiben, bleibt hinter einer FFP2-Maske verborgen. "Wir waren sehr berührt", wird Niinistö hinterher twittern.
Steinmeier warnt vor einer Eskalation
Aber quasi präventiv gibt der Bundespräsident schon vorher Auskunft - in der offiziellen Pressekonferenz, die vor Selenskyjs Auftritt stattfindet. Schwere Waffen für die Ukraine? Das sei "ein schwieriges Thema bei uns in Deutschland", sagt Steinmeier und verweist auf die Bundesregierung. Die müsse entscheiden, was möglich und verantwortbar sei.
Entscheidungen seien dazu in der Vergangenheit gefallen "und weitere Entscheidungen werden sicherlich kommen". Sekundiert wird er vom finnischen Präsidenten, der ein Dilemma beschreibt. Er spricht von "maximaler Unterstützung für die Ukraine", mahnt aber auch zur Vorsicht, damit man nicht einen "noch größeren Krieg eröffnet". Er warnt vor einer Eskalation, falls die NATO-Länder eingreifen.
Bundespräsident Steinmeier und der finnische Präsident Niinistö in Helsinki
Solidarität und Unterstützung für Finnland
Die bisherigen Strafmaßnahmen gegen Russland verteidigt Steinmeier: "Es hat noch nie in der Geschichte der europäischen Union Sanktionen in solcher Schärfe gegeben, wie wir sie jetzt beschlossen haben." Er spricht vom "tapferen Kampf der Ukraine" und dem "mutigen Präsidenten". Und er lässt auf Nachfrage durchblicken, dass er sich eine Reise in die Ukraine vorstellen könnte: "Selbstverständlich denke ich auch darüber nach, wann der Zeitpunkt ist für einen nächsten Besuch in Kiew."
Währenddessen ist Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, in der Ukraine angekommen. Steinmeier aber ist in Finnland. In Helsinki wird er sich an diesem Tag noch im "Exzellenzzentrum für die Bekämpfung hybrider Bedrohungen" - einem von 31 Staaten getragenen Think Tank - über die Kriegsführung autokratischer Staaten informieren.
Er wird die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin treffen und seinem Amtskollegen Niinstö Solidarität und Unterstützung zusichern: "Welche Entscheidung Finnland auch immer fällt: Ihr könnt jedenfalls sicher sein über deutschen Rückhalt." Damit meint Steinmeier die finnischen Überlegungen zum NATO-Beitritt.
Den Besuch in Polen nachholen
Die politische Lage in Finnland ist anders als in Deutschland und doch ähnlich, weil alles anders ist. Konzentriert wirkt der Bundespräsident beim Besuch im Norden, Kritik und Corona-Infektion haben Spuren hinterlassen. Die Diskussionen um seine Person und Politik scheint er hinter sich lassen zu wollen. Nächste Woche will er den Besuch in Polen nachholen.
Die Neuausrichtung der Sicherheitspolitik in Europa ist das Thema der Stunde. Doch es muss sich noch zeigen, ob und wie Steinmeier diese in Zukunft mitprägen kann. Das russische Flugzeug, mit dem der Morgen begann, wird am Abend nicht mehr da sein, als Steinmeier nach Berlin zurückkehrt. Es hat die russischen Diplomaten abgeholt, die die Bundesregierung diese Woche ausgewiesen hat.