Machtwechsel möglich Spanien vor heißer Wahlnacht
Bei den Neuwahlen zum spanischen Parlament zeichnet sich eine Niederlage für die Minderheitsregierung von Ministerpräsident Sánchez ab. Die Konservativen haben gute Chancen, stärkste Kraft zu werden, aber eindeutig ist nichts.
Durchzuatmen war eine Herausforderung am Samstag vor der Schicksalswahl in Spanien. Die Temperaturen waren vielerorts hoch, teils herrschte drückende Schwüle. Der amtierende Ministerpräsident Pedro Sánchez (PSOE), sein konservativer Herausforderer Alberto Nuñez Feijóo (PP) sowie die Noch-Arbeitsministerin Yolanda Díaz, die das neue Linksbündnis "Sumar" anführt, taten dennoch ihr Bestes - jeweils auf ihre Weise.
Bilder inszenierter Gelassenheit: Sánchez war mit dem Mountainbike unterwegs in den Bergen bei Madrid, Feijóo war in telegener Bodenständigkeit beim Spaziergang inklusive Besuch bei einem Gemüsehändler im nordwestspanischen A Coruña zu beobachten. Díaz wiederum ließ sich beim betont ungezwungenen Aperitif mit Freunden ablichten und ging danach ins (klimatisierte) Kino, um sich den neuen "Barbie"-Film anzusehen. Nur keine Nerven zeigen.
Mehr als 37 Millionen Wahlberechtigte
Dabei geht es um viel: Sánchez will im Amt bleiben, Feijóo will es ihm abjagen und am liebsten allein regieren können, und Díaz würde mit ihrem neuen Wahlbündnis nur zu gerne Sánchez‘ bisherigen linken Koalitionspartner "Unidas Podemos" ersetzen. Wessen Traum sich erfüllt, wessen Traum platzt, darüber entscheiden die Wähler.
Mehr als 37 Millionen Spanierinnen und Spanier sind heute aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen, darunter mehr als 1,6 Millionen Erstwählerinnen und Erstwähler. Insbesondere ihre Stimmen sind heiß umkämpft.
Logistische Herausforderung Hitze
Jede Wahl ist ein logistischer Kraftakt, bei dieser kommt auch noch der Faktor Hitze hinzu: Die Temperaturen sollen mancherorts wieder 40 Grad Celsius erreichen. Neben Stimmzetteln und Wahlurnen wurden daher in vielen Wahllokalen auch Ventilatoren und Wasserflaschen in großen Mengen angeliefert, damit alle, Wähler wie Wahlhelferinnen und Wahlhelfer, den Wahlvorgang auch wirklich gut überstehen.
Fast 2,5 Millionen Stimmen gingen zum Fristende am Freitagnachmittag bereits per Briefwahl ein - der höchste Wert seit den Parlamentswahlen 2008.
Kann der Wahlsieger auch regieren?
Spaniens vorgezogene Parlamentswahl wirft viele Fragen auf. Etwa, ob - wer auch immer am Ende der heißen Wahlnacht den Sieg davonträgt - auch regieren können wird. In den zahlreichen Umfragen, die zuletzt die Wählergunst in Spanien abzubilden versuchten, führte der Konservative und Ministerpräsidenten-Aspirant Feijóo vor Amtsinhaber Sánchez.
Doch für eine alleinige Mehrheit für die konservative Volkspartei (PP) dürfte es demnach nicht reichen. Sie kommt nämlich in keiner Erhebung auf mehr als 156 Sitze im Kongress. Für eine absolute Mehrheit müsste sie aber mindestens 176 Sitze holen, andernfalls wäre sie auf einen Partner angewiesen.
VOX könnte Konservative in die Regierung bringen
Für eine Regierungsbildung würde es nur in einem Szenario reichen: Die Konservativen müssten gemeinsame Sache mit der Rechtsaußenpartei VOX machen. Deren Spitzenkandidat Santiago Abascal macht keinen Hehl aus seinen Regierungsambitionen auch auf nationaler Ebene - in drei der 17 autonomen Gemeinschaften Spaniens, vergleichbar mit den deutschen Bundesländern, sowie in mehr als 100 Rathäusern regiert die konservative Volkspartei bereits in Koalitionen mit VOX.
Eine Liebesheirat wäre das mit Sicherheit nicht, zumindest nicht aus Feijóos Sicht, der eigentlich ein Kandidat der Mitte, ein Mittler und Versöhner sein will. Ein Vize-Premier Abascal wäre da schwer vorstellbar. Seine Partei will das Recht auf Abtreibung abschaffen, die Rechte von Minderheiten beschneiden und hat zudem während ihres Aufstiegs seit 2018 ein Potpourri aus Covid- und Klimawandel-Leugnern, militanten Abtreibungsgegnern, bekennenden Faschismus-Fans und PP-Anhängern angezogen, denen die konservative Volkspartei zu "weich" geworden ist.
Linkes Traumpaar Sánchez-Díaz?
Gegen dieses Szenario ziehen Sánchez und Díaz gemeinsam ins Feld und machen keinen Hehl daraus, dass sie weiter zusammen regieren wollen, allerdings ohne "Unidas Podemos".
So ist zu erklären, dass auf der "Sumar"-Liste, in der sich mit 20 kleinen und Mini-Parteien so gut wie die gesamte gesammelte Linke wiederfindet, ausgerechnet ein Name fehlt: Irene Montero, die bisherige Gleichstellungsministerin. Sie gilt vielen als verantwortlich für das Fiasko um die missglückte Reform des Sexualstrafrechts. Das so genannte "Nur-Ja-ist-Ja"-Gesetz sollte ein feministischer Meilenstein werden und musste nachträglich mit den Stimmen der Opposition geändert werden - als unbeabsichtigte Konsequenz hatte die Reform nämlich zu Haftverkürzungen und vorzeitigen Freilassungen verurteilter Sexualstraftäter geführt. Auch Unidas Podemos wurde bei den Kommunal- und Regionalwahlen Ende Mai abgestraft.
Linke Politik ohne interne Querelen?
Die gemeinsame Botschaft von Diáz und Sánchez scheint zu sein: Wir bieten linke Politik ohne ideologische Grabenkämpfe. In der bisherigen Minderheitskoalition hatten sich die Sozialdemokraten und Unidas Podemos immer wieder ineinander verhakt. Sei es beim Thema Waffenlieferungen an die Ukraine, Projekten, die selbst einigen Feministinnen aus den Reihen der PSOE zu weit gingen (etwa die umstrittene Möglichkeit für Frauen, sich bei starken Menstruationsbeschwerden krankschreiben zu lassen) oder eben bei der zunächst vermurksten Reform des Sexualstrafrechts.
"Sumar" mit der beliebten Díaz an der Spitze könnte am Ende ein Zünglein an der Waage sein. Denn obwohl Díaz die Plattform erst Anfang Juni offiziell geformt hat, liefert "Sumar" sich derzeit ein enges Rennen mit VOX um Platz drei. Das würde eine Neuauflage der linken Minderheitskoalition unter Führung der Sozialisten - zumindest theoretisch - denkbar machen, allerdings mit einer Umbesetzung: "Sumar" würde "Unidas Podemos" ersetzen, ein bisschen wie in einer Seifenoper. Daran erinnert die spanische Politik ohnehin oft.
Letzte Ausfahrt Chaos?
Die Ausgangslage ist also kompliziert, der Wahlausgang alles andere als klar vorhersehbar. Falls es am Ende für keine der möglichen Konstellationen für eine stabile Regierung reicht, womöglich auch mit Unterstützung durch andere parlamentarische Gruppen, oder der Konservative Feijóo doch von einer Koalition mit VOX absieht, könnte es letztlich für Spanien heißen: Nach der Wahl, ist vor der Wahl. Es wäre nicht das erste Mal.