Spaniens Regierungschef Sánchez Zwischen Ratspräsidentschaft und Wahlkampf
Dass Spanien heute die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, folgt einem festen Schema. Doch schon im ersten Monat steht eine Parlamentswahl an, die Ministerpräsident Sánchez verlieren könnte.
Ablenkung? Welche Ablenkung? Wenn man in spanischen Regierungskreisen nachfragt, herrscht demonstrative Gelassenheit: Klar, es sei mächtig viel los, aber man arbeite mit "absoluter Normalität" an den Plänen für die EU-Ratspräsidentschaft.
Die Demokratie sei nie ein Problem, erklärte unlängst auch der Regierungschef selbst. Es sei zudem nicht das erste Mal, dass Wahlen während einer EU-Ratspräsidentschaft stattfänden, sagte der sozialdemokratische Ministerpräsident Pedro Sánchez, als er Mitte Juni die spanischen Schwerpunkte vorstellte.
Im ersten Halbjahr 2022 wurde während der Ratspräsidentschaft in Frankreich gewählt und Präsident Emmanuel Macron im Amt bestätigt.
Wer wird die Rede des Ratspräsidenten halten?
Doch die vorgezogene spanische Parlamentswahl wirkt sich schon jetzt aus. So hat Sánchez, anders als damals Macron, seinen großen Auftritt im EU-Parlament von Juli auf September verschoben - die traditionelle Rede des neuen Ratsvorsitzenden wird also mehr als zwei Monate nach Beginn der Präsidentschaft gehalten werden.
Und ob der amtierende EU-Ratsvorsitzende dann noch Sánchez heißt, ist ungewiss - denn ein Regierungswechsel nach der Wahl am 23. Juli ist nicht ausgeschlossen.
Koalitionspartner gesucht
Die konservative Volkspartei (PP) könnte derzeit etwa jede dritte Wählerstimme auf sich vereinen. Das geht aus Daten hervor, die das spanische öffentlich-rechtliche Fernsehen in der vergangenen Woche veröffentlicht hat. Demnach käme der Partido Popular auf 139 Sitze, mehr als die sozialistische Partei (PSOE) und die neue progressive Sammlungsbewegung "Sumar" zusammengenommen.
Mehr, aber nicht genug, um allein regieren zu können, wie es dem PP-Vorsitzenden Alberto Núñez Feijóo eigentlich vorschwebt. Für eine absolute Mehrheit bräuchten die Konservativen die Ultrarechten von Vox, die Umfragen schon seit längerem stabil als drittstärkste politische Kraft im Land sehen, hinter den Konservativen und den Sozialisten. Entsprechend selbstbewusst tritt Vox auf.
In den Rathäusern wird schon kooperiert
Dass bei der PP Berührungsängste in Richtung Vox gering bis nicht vorhanden sind, zeigt sich derzeit in einer ganzen Reihe von Rathäusern oder auch in der einst linken Hochburg Valencia. Dort bildet die neue Regionalregierung künftig ein Bündnis aus PP und Vox.
Auch in anderen Regionen stehen die Zeichen auf Zusammenarbeit oder zumindest Tolerierung einer konservativ geführten Minderheitsregierung durch Vox. Pablo Simón, Politikwissenschaftler und Professor an der Universität Carlos III in Madrid, hält ein Bündnis von PP und Vox auch auf nationaler Ebene nicht für ausgeschlossen.
Für PP-Chef Núñez Feijóo, der am Donnerstag in Brüssel noch bemüht schien, das Ausmaß der regionalen Bündnisse zwischen PP und Vox vor seinen Parteifreunden der Europäischen Volkspartei herunterzuspielen, ist das ein Balanceakt.
Mobilisierungseffekt für die PSOE?
Der amtierende spanische Ministerpräsident Sánchez und seine Sozialisten hingegen lassen keine Gelegenheit aus, die Scheinwerfer auf genau diese Bündnisse zu richten. Denn wie die Konservativen haben auch die Sozialisten die Wahl am 23. Juli zu einer Art Schicksalswahl erklärt.
"Für ein Spanien der Rechte oder der extremen Rechten", heißt es seit Ende Mai auf allen PSOE-Kanälen. Ziel ist es, die Teile der eigenen Anhängerschaft zu mobilisieren, die bei den jüngsten Kommunal- und Regionalwahlen zu Hause geblieben sind, auch mit Blick auf gesellschaftspolitische Reformprojekte, die die Minderheitsregierung von Sozialisten und Linksbündnis "Unidas Podemos" umgesetzt haben.
Vox will keine Gleichstellungspolitik
Vox macht aus ihrer Haltung zu diesen Fragen kein Geheimnis - in Madrid sorgte unlängst ein großes Plakat der Ultrarechten für Aufregung. Darauf war eine Hand mit einem Armband in den spanischen Nationalfarben ums Handgelenk zu sehen, über einem Mülleimer, in dem sich unter anderem schon die LGTBI-Flagge, das Feminismus-Symbol oder auch die "Agenda 2030" - die Strategie der amtierenden Regierung für nachhaltige Entwicklung - befinden. Das Plakat wurde mittlerweile wieder abgehängt.
Die Gleichstellungspolitik ist dabei eines der heikelsten Themen. Vox lehnt sie rundheraus ab. Die Konservativen müssen ihre Schmerzgrenze finden, denn Gleichstellungsfragen werden in Spanien von einem breiten gesellschaftlichen Bündnis getragen - also auch von Menschen, die eher konservativ denken.
Und was ist mit geschlechtsspezifischer Gewalt?
Ähnlich ist die Situation mit Blick auf das Thema geschlechtsspezifische Gewalt, also wenn Männer ihre Partnerinnen bedrohen, verletzen oder gar umbringen. Die gängige Vox-Haltung dazu: Geschlechtsspezifische Gewalt gibt es nicht.
Die Konservativen erkennen zwar an, dass die Gewalt gegen Frauen existiert und versichern, dass sie diese weiter als solche bekämpfen wollten. Im Koalitionsabkommen in der Region Valencia - dort gibt es spezifische Programme für den Schutz gefährdeter Frauen und Prävention von geschlechtsspezifischer Gewalt - ist jedoch nur noch die Rede von "interfamilärer Gewalt" und die Zuständigkeiten für Justiz und Inneres gehen an Vox.
Der Wahlkampf wird inhaltlicher
Die Bündnisse der Konservativen mit Vox in den Kommunen und Regionen könnten dem Wahlkampf allerdings unerwartet guttun. Denn sie zwingen die Konservativen zunehmend, weniger auf persönliche Attacken gegen Sánchez zu setzen, sondern mehr ihrer Inhalte zu präsentieren.
Auch, um künftig Missgeschicke zu vermeiden wie das hier: PP-Chef Núñez Feijóo hatte angekündigt, alle Gesetze und Vorschriften auf den Prüfstand zu stellen, die mit der Zustimmung der baskischen Separatisten des Wahlbündnisses Bildu beschlossen wurden. Die Linken fragten zurück, ob das auch für die jüngsten Rentenerhöhungen gelte.
Je inhaltlicher der Wahlkampf wird, desto größer sind die Chancen der Sozialisten, Boden gutzumachen. Die amtierende Regierung hat nämlich keine schlechte Bilanz vorzuweisen. Nationale und internationale Statistiken, etwa Arbeitsmarkt-, Inflations- oder Wirtschaftswachstumszahlen, bestätigen das seit Monaten.