Freiwillige und Rettungshelfer begleiten auf dem Bahnhof von Kursk (Russland) Geflüchtete aus der Grenzregion zur Ukraine.
reportage

Geflüchtete in Kursk "Sie gaben uns zehn Minuten Zeit zur Evakuierung"

Stand: 22.08.2024 12:31 Uhr

Tausende Russen aus der Grenzregion zur Ukraine sind in der Stadt Kursk untergekommen - manche nach überstürzter Flucht und manche ohne einen festen Schlafplatz. Frank Aischmann hat sich in der Stadt umgehört.

Am Stadtrand von Kursk bricht im Autoradio plötzlich die Musik ab, eine Durchsage erfolgt: "Raketengefahr - bleiben Sie zu Hause, schützen Sie sich in einem fensterlosen Raum mit dicken Wänden. Wenn Sie auf der Straße sind oder im Auto, suchen Sie einen Schutzbunker auf oder einen sicheren Platz!"

Mehrmals am Tag gibt es im hochsommerlichen Kursk diese Warnung vor anfliegenden Raketen oder Drohnen aus der nur rund hundert Kilometer entfernten Ukraine - immer wieder heulen die Sirenen. Die Reaktion auf der Straße: gleich Null, der Alltag in der russischen Stadt scheint fast ungerührt weiterzugehen.

Und doch sagt Daria Sawina, die Stadt habe sich geändert: "ganz allgemein hat die Angst zugenommen". In einem Jugendzentrum in der Leninstraße 15, ein paar Gehminuten vom Roten Platz von Kursk entfernt, erzählt Sawina von ihrem Sohn, zehn Jahre alt. "Nachts wacht er natürlich auf, wenn es Explosionen gibt, die Sirenen heulen, die Fenster wackeln. Natürlich sind alle nervös, angespannt, das liegt in der Luft."

 

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Nicht jeder findet einen Platz zum Schlafen

Sawina ist stellvertretende Leiterin eines Ausgabepunktes, in dem es gespendete Kleidung gibt und Plastikpakete mit Hilfsgütern. Vor allem Matratzen, Decken und Kissen bräuchten die Menschen jetzt, berichtet sie.

"Viele sind bei Verwandten untergekommen oder in Mietwohnungen, da leben dann schon mal zehn oder zwölf Menschen. Und wir hören oft Geschichten, dass die Leute gar keinen Schlafplatz haben, im Auto übernachten, in Sommerhäusern, weil unsere Notunterkünfte derzeit voll sind und die Leute in andere Regionen geschickt werden." Das sei "sehr stressig, weil man nicht mehr nah an seinem Zuhause ist, sondern hunderte Kilometer entfernt".

Rund 10.000 Menschen aus dem Grenzgebiet fanden in Kursk und Umgebung eine vorübergehende Unterkunft, genau 554 von ihnen in der Kursker Karl-Marx-Straße 70 - das ist die Adresse der Kursker Agraruniversität. Derzeit sind Semesterferien, und die Reihe fünfgeschossiger Studentenwohnheime ist nun mit den Geflüchteten belegt.

Zehn Minuten Zeit zur Flucht

Eine von ihnen ist Natalia Kobez aus einem Dorf bei Sudscha. Sie teilt sich mit ihren vier minderjährigen Kindern ein kleines Zimmer im zweiten Stock.

Als am 6. August in der Nacht der Beschuss von Sudscha begann, habe es am Morgen kein Licht und kein Wasser mehr gegeben, erzählt sie, es sei sehr laut gewesen und die Truppen seien immer näher gekommen. Einen Tag später seien dann russische Soldaten und der Bürgermeister erschienen.

"Sie gaben uns zehn Minuten Zeit zur Evakuierung, und wir wurden hierher nach Kursk gebracht. Wir packten in den zehn Minuten die wichtigsten Dinge und Dokumente ein, ließen die Tiere und die Hunde frei, und dann fuhren wir los."

Schuldzuweisungen auf Staatslinie

Vor einem Nachbargebäude der Notunterkunft, direkt neben der großen Mensa, stehen zwei ältere Männer, die die Welt nicht mehr verstehen. Grade im Grenzgebiet hätten sich Russen und Ukrainer doch immer bestens verstanden, brüderlich zusammengelebt.  

Er glaube, "dass die westliche Propaganda, vor allem der Vereinigten Staaten und von England" einen Keil zwischen Russland und die Ukraine getrieben hat, sagt einer der Männer und fügt die Behauptung an, "sie" hätten "diese Nazis großgezogen, schreiben die Geschichte nach ihren eigenen Wünschen um".

Was wie die offizielle Moskauer Propaganda klingt, ist unter den befragten geflohenen Menschen Mehrheitsmeinung. Der Krieg gegen die Ukraine, das sei doch gar kein Krieg. Und der Angriff der Ukraine auf das eigene Gebiet? Terrorismus. Auch das ist Staatslinie. 

Über den russischen Präsidenten Wladimir Putin sind sie dagegen voll des Lobes: "Unser Präsident dagegen ist sehr schlau und es wird uns gut mit ihm gehen. Wir werden überleben. Jetzt hoffen wir, dass wir bald zurückkehren und wieder so leben können wie früher."

Ungewisse Zukunft

Die 71-jährige Ljubow Stepanowna, die die Ortschaft Kautschuk verlassen musste, sagt, das alles sei doch nur passiert, "weil die Nazis ihre Köpfe erhoben haben". Und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij sei doch "drogenabhängig", das wisse ja jeder. Außerdem tanze er "nach der Melodie der amerikanischen Herrscher".

Aber auch das ist zu hören unter den Menschen, die in die 500.000-Einwohnerstadt Kursk geflohen sind: "Wir wissen nicht, wann Russland sein Gebiet zurückerobert, aber das wird sicher länger noch dauern."

Frank Aischmann, ARD Moskau, zzt. Kursk, tagesschau, 22.08.2024 08:54 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete der Weltspiegel am 21. August 2024 um 22:50 Uhr.