Roubaix vor der Präsidentschaftswahl "Wer es am meisten braucht, wählt nicht"
Bei der französischen Präsidentschaftswahl rechnen viele mit einer niedrigen Beteiligung. In Roubaix ist sie seit Jahrzehnten besonders niedrig. Aktivisten wollen dies ändern.
"Ich denke, also wähle ich!" Gleich 28 runde Aufkleber mit dieser Aufschrift haben Bruno, Sophie und Sylvie an die hohen Fenster ihres Backsteinhauses geklebt. Hier leiten sie das Bürgerkomitee des Stadtviertels Hommelet.
"Wir haben 2002 mit der Kampagne begonnen, denn zwei der Wahlbüros mit der niedrigsten Wahlbeteiligung in unserer Region lagen bei uns im Viertel! 64 Prozent sind nicht wählen gegangen. Ein Skandal!", meint Bruno. Damals kam Marine Le Pen überraschend in die zweite Runde. "Da haben wir uns gesagt: 'Wir müssen etwas tun.'"
An den Wänden der alten Villa hängen Plakate: ein Rap-Konzert mit Jugendlichen, Stadtteilfest, Ostereiersuche, aber auch ein Blog und ins Internet gestreamte Debatten. Die Corona-Pandemie hat alles eingeschränkt. Aber teilhaben am Leben des Viertels, mitmachen bei der Wahl - das bleibt Brunos Philosophie.
"Leute haben Glauben an Politiker verloren"
Doch die ging in Roubaix, einer Stadt, in der rund die Hälfte der etwa 100.000 Einwohner unter 30 Jahre alt ist, nicht auf: "Es wird immer schlimmer, jetzt sind wir hier schon bei 90 Prozent, die nicht abstimmen", klagt er. "Es ist nicht wie früher, wo sie angeln gehen und die Wahlen aus dem Blick verlieren. Jetzt haben die Leute den Glauben an die Politiker verloren. Wer es am meisten braucht, wählt nicht - schrecklich."
Frankreichs Nichtwähler sind jung, weniger gebildet, aus prekärem Milieu - ob Arbeiter oder Angestellte. In Roubaix gibt es viel Armut, an der sich seit 20 Jahren nichts geändert habe, sagt Bruno: "Es gab große Textilunternehmen hier, die alle entlassen haben - 'Schlagt Euch selbst durch!' In Roubaix ist fast die Hälfte der Bevölkerung arm. Und ein Viertel geht für Lebensmittel zur Tafel." Aber wer nicht wählt, existiere nicht, warnt Bruno.
Die Stadt investiere in schicke Kulturprojekte - wie das Kunstmuseum im Jugendstil-Schwimmbad. Dorthin kommen aber Pariser oder ausländische Touristen.
Arbeitslosigkeit und Kriminalität
Und wie motiviert man die Einheimischen zu wählen? Sophie bringt es auf den Punkt: "Die Alltagsprobleme lösen! Mehr Jobs, weniger Müll, mehr Parkplätze."
In Roubaix, wo im Winter in den Sozialwohnungen schon mal die Heizung ausfällt, sinkt die Arbeitslosigkeit. Sie liegt aber immer noch rund 60 Prozent höher als im Landesdurchschnitt.
"Für unsere Kampagne haben wir keinen Cent von der Stadt bekommen. Wir nutzen alte Flyer, recyceln unsere Shirts", erzählt Sylvie und zieht ihr Wahl-T-Shirt über, frisch aus der Wäsche. "Eine Plakataktion musste ausfallen."
Das Trio macht sich auf den Weg und ist sofort beim nächsten Problem: "Wir haben einen Dealer-McDrive", meint Bruno. "Sie haben da einen Lebensmittelladen, der ist rund um die Uhr auf. Nicht filmen - die zwei in dem roten Auto davor gehören dazu." Der Inhaber des Ladens gegenüber sei von ihnen erpresst worden, weiß Bruno zu berichten.
"Wheelie" im Vorbeifahren: Ein Motorradfahrer rauscht durch Roubaix.
Wählen, um Zemmour zu verhindern
Unsicherheit regiert. Doch Brunos Team hat auch viel geschafft: einen Park gestaltet auf der Brache einer abgerissenen Textilfabrik - mit Pflanzen, aus deren Fasern Stoffe sind. Wenn eine Grünfläche einem Parkplatz weichen soll, mischen sie sich ein, befragen die Bürger nach ihren Wünschen.
Doch der Frust der Anwohner bleibt. "Nein, ich geh' nicht wählen. Ich muss arbeiten. Politik interessiert mich auch nicht. Die sind doch alle gleich", sagt ein Mann. "Immer die gleichen Geschichten. Sie versprechen etwas und machen am Ende denselben Mist nur für die Reichen", sagt ein anderer. "Ich geh' nicht wählen. Der Wahlkampf hat mich auch angewidert."
Der Wahlkampf, in dem der rechtsextreme Kandidat Eric Zemmour Roubaix erwähnte: Es sei Afghanistan zwei Stunden von Paris. Das habe die Leute sehr verletzt - noch ein weiteres schlechtes Image, noch mehr schämen, sagt Bruno. Ein Fernsehreport hatte vorher ein Restaurant mit Extraabteilen für Frauen gezeigt. Es ist inzwischen aus Hygienegründen geschlossen.
"Im aktuellen Fall müssen wir wählen. Gegen Zemmour", meinen Malik, Mehdi und Omar, drei Männer mit afrikanischen und arabischen Wurzeln vor einem Häuserblock. "Wir sind zusammen, respektieren die Religionen. Das Fernsehen hat alles dramatisiert. Und im Wahlkampf war so viel Hass."
In Roubaix sei vieles vernachlässigt worden - die Männer erzählen davon, dass der Boxverein nur einen Helm für zehn Kinder habe. "Wir waren auch im Rathaus, haben um einen neuen Sportsaal gebeten. Kein Budget. Man hat uns weggeschickt. Wenn wir uns nicht bewegen, geht das gegen uns. Mit Zemmour oder Le Pen an der Macht - das wird ein Bordell!"
Viel Zuspruch für Mélenchon
Ein paar Meter weiter steht jene Grundschule, in der vor 20 Jahren das Wahllokal mit der niedrigsten Beteiligung in Frankreichs Nordosten war. Auch jetzt hängen davor die Plakate der zwölf Kandidaten - zwei sind abgerissen: die der rechtsextremen Kandidaten Le Pen und Zemmour.
Bei der Präsidentschaftswahl vor fünf Jahren erhielt in Roubaix Linksaußenpolitiker Jean-Luc Mélenchon in der ersten Runde am meisten Stimmen, fast doppelt so viele Stimmen wie der spätere Präsident Emmanuel Macron.
"Die Leute hier haben die Schnauze voll. Das muss man aber zeigen! Sonst ändert sich nichts!", wettert eine Passantin. "Ich wähle Mélenchon. Und in Runde zwei das geringere Übel."
Zurück im Stadtviertelkomitee muss Bruno bei all den düsteren Aussichten auch mal lachen. Auf eine Wahl fährt man im Viertel nämlich schon ab: "Für die Miss-Roubaix-Wahlen gibt es keine Nichtwähler. Da wollen alle dabei sein", erzählt er. "Wir wählen auch eine Miss International. Aus ganz Frankreich kommen sie dafür zu uns. Der Gewinn ist ja auch eine Reise nach Japan oder Amerika."
Um vor dem Alltag zu fliehen? Die Nichtwähler von Roubaix jedenfalls fühlen sich von der Politik vergessen. Nun haben sie die Politik vergessen.