Russland und seine Nachbarn Wo liegen Putins Grenzen?
Russlands Präsident Putin sieht sich in der Tradition großer russischer Zaren und begründet so auch den Angriff auf die Ukraine. Wird Putin heute in St. Petersburg erneut weitere Gebietsansprüche andeuten?
Es habe sich fast nichts geändert, erklärte Wladimir Putin mit einem deutlichen Schmunzeln, als er vor rund einer Woche am 350. Geburtstag Peters des Großen vom heutigen Russland auf das damalige Zarenreich blickte. Denn auch Zar Peter sei auf deutlichen Widerstand gestoßen, als er die Gebiete rund um das heutige St. Petersburg nicht etwa von Schweden erobert, sondern, wie Putin betonte, zurückgeholt habe.
Als er dort die neue Hauptstadt gründete, erkannte keines der Länder Europas dieses Territorium als Russland an. Für alle war es Schweden. Dabei haben dort seit jeher neben den finno-ugrischen Völkern auch Slawen gelebt. Dies betrifft auch Narva. Er brachte es wieder zurück und stärkte es. Offenbar ist das auch unser Schicksal: zurückzuholen und zu stärken.
Sätze, die politische Beobachter sofort aufhorchen ließen. Narva liegt in Estland - direkt an der estnisch-russischen Grenze. Dass solche Ortsmarken nicht zufällig fallen, zeigte unter anderem die Interpretation der Worte Putins, die unmittelbar im russischen Staatsfernsehen erfolgte.
"Jetzt verstehen wir, wie Russlands Pläne für die Zukunft aussehen: Wir holen zurück und wir stärken", erklärte Olga Skabejeva in ihrer kremltreuen Polit-Talkshow "60 Minuten" und ergänzte fast schon feierlich: "Der Präsident hat eine Aufgabe gestellt."
"Holen wir zurück?"
Nahezu flapsig warf dagegen Wladimir Solowjew, einer der führenden Propagandisten im russischen Fernsehen, seine Frage in die Runde: "Nun denn, holen wir zurück?"
Die folgende Diskussion drehte sich dann nicht mehr um das "ob", sondern um das "was": "Wer ist als nächstes dran?", fragte einer von Solowjews Talk-Gästen, und fügte hinzu "Als nächstes kommt Osteuropa. Polen ist am nächsten an der Ukraine dran. Aber am nächsten an den Grenzen der früheren Sowjetunion ist das Baltikum. Deswegen schreien sie ja auch lauter als alle anderen."
Dass sich derartige Gedankenspiele nicht nur an die russischen Zuschauerinnen und Zuschauer richten, steht außer Frage. Erst kürzlich schlug Moderatorin Skabejeva erneut vor, direkt die gesamte NATO zu demilitarisieren.
Frühe Andeutungen
Dabei sind die Grenzen zwischen reiner Provokation und möglicherweise ernstzunehmenden Ankündigungen fließend - sowohl im russischen Staatsfernsehen, als auch im Kreml. Bereits vor einem Jahr erschien ein Essay Putins, in dem er der Ukraine de facto ihr Existenzrecht absprach.
Es war längst nicht das erste und auch nicht das letzte Mal, dass er das tat. Doch für viele kam die Erkenntnis, dass es dem russischen Staatsoberhaupt tatsächlich um weit mehr gehen könnte als nur den Donbass, erst im Februar - nur wenige Tage bevor er mit dem Einmarschbefehl in die Ukraine seinen Worten Taten folgen ließ.
Und auch jetzt, am 350. Geburtstag Zar Peter des Großen, erklärte Putin:
Wenn ein Land oder eine Gruppe von Staaten nicht in der Lage ist, souveräne Entscheidungen zu treffen, ist es schon gewissermaßen eine Kolonie. Aber eine Kolonie hat keine historische Perspektive, keine Chance, in einem so harten geopolitischen Kampf zu überleben. Und Russland stand schon immer an der Spitze des Zeitgeschehens. Ja, es gab Epochen in der Geschichte unseres Landes, in denen wir uns zurückziehen mussten - aber nur, um unsere Kräfte zu sammeln und dann vorwärts zu gehen.
Gewollte Unklarheiten
Dabei lässt Putin bewusst offen, wie weit er zu gehen bereit ist und wo denn nun die - nicht nur - geopolitischen Grenzen seines Russlands liegen. Eine Frage, auf die auch der Kartendienst des größten russischen Online-Dienstleisters Yandex keine Antwort mehr weiß.
Vergangene Woche entschloss sich das Unternehmen, alle Staatsgrenzen aus seinen virtuellen Landkarten zu entfernen. Offiziell, um den Fokus auf die naturgegeben Merkmale zu legen und so die Welt korrekt abzubilden.