Oberstes Gericht in Polen Regierungskritischer Richter darf wieder arbeiten
Das Oberste Gericht in Polen hat die Suspendierung des regierungskritischen Richters Tuleya kassiert. Der politische und finanzielle Druck aus Brüssel scheint zu wirken - und könnte weiteren Richtern helfen.
Igor Tuleya steht in Warschau auf der Straße - nicht im Gerichtssaal, sondern davor. Drinnen wird er gerade freigesprochen. Eigentlich ist er Richter am Warschauer Bezirksgericht. Doch vor zwei Jahren suspendierte man ihn vom Dienst, sein Gehalt wurde gekürzt und die Staatsanwaltschaft lud ihn vor. Jetzt entscheidet die "Kammer für berufliche Veantwortung" am Obersten Gericht zu seinen Gunsten.
"Wir stellen fest, dass Richter Igor Tuleya kein Verbrechen begangen hat", sagte Richterin Wasek-Wiaderek bei der Urteilsverkündung. "Es gibt keinerlei Grundlage dafür, dass der Richter nicht urteilen kann und dass sein Gehalt gekürzt wird." Auf dieser Grundlage entscheide das Oberste Gericht, dass die vorläufigen Maßnahmen außer Kraft gesetzt werden.
Es ist ein Urteil mit langer Vorgeschichte, vor allem aber ein großer Erfolg für alle Kritikerinnen und Kritiker der umstrittenen PiS-Justizreform. Ein Etappensieg - mindestens.
Tuleya: "Eine Stimmung wie bei Kafka"
Tuleya hatte Ende 2017 als Richter geurteilt, dass eine umstrittene Haushaltsabstimmung im polnischen Parlament möglicherweise nicht rechtmäßig abgelaufen war, die Staatsanwaltschaft müsse ermitteln.
Es war ein Urteil, das der Regierung der nationalkonservativen PiS nicht gefallen konnte. In der Folge wurde Tuleya wegen vermeintlicher Verfahrensfehler suspendiert und seine Immunität aufgehoben. Die Staatsanwaltschaft ermittelte zwar, aber gegen den Richter.
Jetzt erklärte das Oberste Gericht: "Der Richter handelte in den Grenzen und auf Grundlage des Rechts. Deshalb kann keine Rede davon sein, dass hier eine verbotene Tat vorliegt."
Und Richter Igor Tuleya? Zeigt sich nach dem Urteil vielleicht erleichtert, aber nicht besänftigt: "Ich wurde vor zwei Jahren durch etwas, das kein unabhängiges Gericht ist, suspendiert", sagte der Warschauer. "Und heute wird diese Entscheidung aufgehoben durch etwas, das kein unabhängiges Gericht ist. Es ist also tatsächlich eine Stimmung wie bei Kafka."
Geldstrafe des EuGH: eine Million Euro pro Tag
Was Tuleya als kafkaesken Wahnsinn beschreibt, ist die von der PiS-Regierung eingeführte Disziplinarkammer am Obersten Gericht. Sie war im Sommer 2021 vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) für unrechtmäßig erklärt worden, weil sie geeignet sei, in die Freiheit der Gerichte einzugreifen.
Weil sie trotzdem weiter in Kraft blieb, verurteilte der EuGH Polen zu einer Geldstrafe von einer Million Euro pro Tag. Inzwischen wurde die Kammer zwar aufgelöst, aber durch eine fast baugleiche für "berufliche Verantwortung" ersetzt - eben die, die Tuleya freigesprochen hat.
Aus Sicht der EU-Kommission ist das nicht genug. Sie fordert das tatsächliche Ende der Richterdisziplinierung. Aus diesem Grund werden derzeit auch europäische Gelder für Polen in Milliardenhöhe zurückgehalten - Geld, das das Land in der Wirtschaftskrise dringend gebrauchen kann.
Druck aus Brüssel könnte anderen Richtern helfen
Tuleya ist bereits der zweite Richter, den die Kammer in dieser Woche rehabiliert. Die Protestbewegung für freie Gerichte hofft deshalb, dass der politische und finanzielle Druck aus Brüssel auch anderen suspendierten Richtern helfen könnte. Noch zwei weitere Richter, Gaciarek und Ferek, bleiben suspendiert.
"Natürlich erwarten wir jetzt auch hier Entscheidungen", sagte die Juristin Maria Ejchart-Dubois. "Aber die Kammer für berufliche Verantwortung besteht aus elf Richtern. Wer beim nächsten Mal entscheidet, wissen wir nicht. Die Entscheidung kann aber davon abhängen, wer sie trifft." Früher sei das anders gewesen, als Polinnen und Polen noch in einer Realität des Rechts gelebt hätten und die Verfassung geachtet wurde, so Ejchart-Dubois.
Noch ist nicht sicher, ob Tuleya tatsächlich vom Bezirksgericht Warschau wieder eingesetzt oder das neue Urteil, wie schon in anderen Fällen, schlicht ignoriert wird. Denn zwischen Rechtssprechung und -umsetzung klafft in Polen bisweilen eine große Lücke.