Krieg gegen die Ukraine "Debatte über Friedenstruppe geht an Realität vorbei"
Seit Trumps Sieg wird verstärkt über ein mögliches Kriegsende in der Ukraine spekuliert. Die NATO-Expertin Babst kritisiert das als realitätsfern. Sie fordert, erst eine Haltung zu Selenskyjs Friedensplan zu entwickeln.
tagesschau.de: Es gibt zunehmende Diskussionen über Verhandlungen über ein Ende der Kämpfe in der Ukraine. Sind die Voraussetzungen für solche Gespräche mit Russland überhaupt gegeben?
Stefanie Babst: Lassen Sie mich dazu einen generellen Punkt machen. Das ukrainische "Schachbrett" ist in den letzten drei Jahren viel komplexer geworden, unter anderem was die Anzahl der Akteure angeht. Wir haben jetzt durch die Beteiligung Chinas, des Iran und Nordkoreas einen globalisierten Konflikt in der Mitte Europas.
Wer auch immer über Verhandlungen redet, muss diese strategische Gemengelage im Blick haben. In Peking und Teheran, quasi rund um den Erdball, beobachtet man unsere Reaktion darauf genau.
Was Russland anbelangt, kann ich keine Bereitschaft zu Gesprächen erkennen. Russland bekommt durch seine "Allianzpartner" militärisch und wirtschaftlich nach wie vor so viel Unterstützung, sodass es seinen Vernichtungskrieg noch eine ganze Weile führen kann. Putin hält unbeirrt an seinem Ziel fest, die Ukraine zu vernichten und die NATO und EU zu destabilisieren.
Vielleicht ändert sich seine Verhandlungsbereitschaft, wenn Trump nach dem 20. Januar auf ihn zukommen sollte. Noch wissen wir aber nicht, welchen ersten Zug Trump machen wird. Ich gehe davon aus, dass sich das Trump-Lager und das Putin-Lager erst einmal über einen längeren Zeitraum abklopfen werden.
Putin wird ganz sicherlich nicht am 20. Januar seine Bereitschaft erklären, sich an einen Tisch mit Trump zu setzen, weil das aus seiner Sicht nicht notwendig ist. Er wird derjenige sein, der weiterhin Forderungen stellt - nicht nur in Bezug auf die Neutralität der Ukraine, ihre Demilitarisierung und die annektierten Gebiete, sondern auch in Bezug auf die Aufhebung wirtschaftlicher Sanktionen.
Welche Möglichkeiten Trump bleiben
tagesschau.de: Trump erweckt auf die ihm eigene Art den Eindruck, dass er genau das schnell erreichen kann. Wenn man die üblichen Prahlereien beiseite lässt: Welche Möglichkeiten hat er, Putin zum Verhandeln zu bewegen?
Babst: Trump wird seine globale Macht unterstreichen wollen, vor allem seine militärische Macht. Vielleicht wird er ähnlich, wie Putin es tut, laut über eine Modernisierung des US-Atomarsenals nachdenken. Das wäre auch eine indirekte Botschaft an Peking. Er könnte auch, um aus einer Position der Stärke zu agieren, die Ukraine weiter mit größeren Waffenpaketen ausrüsten. Zumindest könnte er das dem Kreml androhen.
Trump könnte auch versuchen, an die Eitelkeit Putins zu appellieren. Denn Putin möchte irgendwann wieder mit dem amerikanischen Präsidenten im globalen Rampenlicht stehen, auf Augenhöhe. Ein bilaterales Treffen hat Biden Putin drei Jahre lang verweigert.
In dem Augenblick, wo es zu einem solchen Treffen käme, hätte Putin einen wichtigen Etappensieg errungen und wäre aus seiner westlichen Isolation ausgebrochen. Das könnte er natürlich innenpolitisch bestens vermarkten. Aber davon sind wir noch weit entfernt.
"Es gibt keinen Konsens zu Selenskyjs Friedensplan"
tagesschau.de: Sollte es zu einer Übereinkunft kommen, werden auf die NATO-Staaten als Garantiemächte besondere Anforderungen zukommen. Haben Sie den Eindruck, dass diese Erkenntnis in der NATO schon angekommen ist und dort auch angenommen wird?
Babst: In meinen Augen teilen sich die 32 NATO-Staaten in mehrere Gruppen auf. Da sind die entschiedenen Unterstützer der Ukraine, die in Russland eine direkte Bedrohung ihrer eigenen Sicherheit sehen und es in der Ukraine militärisch besiegt sehen wollen. Das sind die baltischen und skandinavischen Staaten und auch Polen.
Dann gibt es die Gruppe der Russlandfreunde - Ungarn, die Slowakei, demnächst vielleicht auch Rumänien. Und dann gibt es die Gruppe der südländischen Staaten, Spanien und Portugal, aber auch kleinere Staaten wie Belgien, die die strategische Auseinandersetzung mit Russland einfach nur aussitzen wollen.
Und schließlich ist da noch das deutsch-französische Tandem, das schon länger aus dem Ruder gelaufen und mit sich selbst beschäftigt ist: Deutschland ist im Wahlkampf versunken und Macron innenpolitisch total angeschlagen. Insgesamt ist die NATO politisch also sehr heterogen.
Es gibt deshalb seit drei Jahren keine langfristige Russland-Strategie, keine konkrete Vorstellung über den "end state" der Ukraine und keinen Konsens, wie mit Selenskyjs Siegesplan umzugehen ist und ob zum Beispiel Beitrittsgespräche mit der Ukraine aufgenommen werden sollen. Letztes wäre in meinen Augen ein klares Signal und der richtige Schritt.
"Wir reden dann von mehreren hunderttausend Soldaten"
tagesschau.de: Folgt aus dieser Uneinigkeit auch eine Unklarheit, was weitere mögliche Schritte für eine Beendigung der Kampfhandlungen anbelangt - zum Beispiel, als Garantiemächte eines Friedens Soldaten in die Ukraine zu entsenden?
Babst: Waffenstillstand, Pufferzone, Entsendung von Soldaten - all das sind gegenwärtig Gedankenspiele, die wenig mit der Realität zu tun haben. Aber wenn wir sie trotzdem einmal durchspielen, reden wir von einer Grenze, die 1.900 Kilometer lang ist. Wir reden von einem ungefähr 900 Kilometer langen Frontabschnitt, der heftig umkämpft, militärisches zerstörtes Ödland und stark vermint ist.
Und wir reden von einer Russischen Föderation, die zumindest heute rund 650.000 Kampftruppen gegen die Ukraine im Einsatz hat. Diese müssten effektiv abgeschreckt werden, wenn man einen Waffenstillstand sichern wollte, es sei denn, sie zögen sich weit in das russische Hinterland zurück.
Wie groß müsste also ein robust ausgestattetes westliches Truppenkontigent sein, das sowohl abschreckend wirkt als auch einen Waffenstillstand überwachen könnte? Wir redeten dann wohl von mehreren hunderttausend Soldaten.
Hinzu kämen die notwendige Logistik, Ausrüstung, Führungsfähigkeiten usw. Insgesamt wäre das eine gigantische, hochkomplexe Operation, deren Teilnehmer auch rotieren müssten.
Überdies gelten die bereits bestehenden Zusagen für Truppe und Fähigkeiten der Mitglieder gegenüber der NATO ja weiter. Ich sehe nicht, wie das von den Europäern zu leisten wäre. Das könnte theoretisch, wenn überhaupt, nur mit einer sehr breiten internationalen Beteiligung, vielleicht mit einem UN-Mandat, vorstellbar sein.
Was in Deutschland momentan debattiert wird, geht also komplett an der Realität vorbei. Die Bundeswehr ist ja noch nicht einmal in der Lage, ihre NATO-Verpflichtungen in Gänze zu erfüllen oder eine Brigade nach Litauen zu bringen, ohne dass es fünf oder vier Jahre dauert.
Wir haben keine umfangreichen militärischen Fähigkeiten, wir haben nur bedingt einsatzfähige und verlegbare Truppen und der gegenwärtige Personalbestand der Bundeswehr ist viel zu gering.
"Nie ernsthaft über Siegesplan von Selenskyj diskutiert"
tagesschau.de: Müsste man dazu nicht auch definieren, was es bedeutet, dass Putin nicht gewinnen darf, so wie es der Bundeskanzler immer wieder fordert und wie man sich zu Selenskyjs Friedensplan stellt?
Babst: Herr Scholz will "Putin nicht gewinnen lassen", aber seine Regierung hat herzlich wenig dazu getan, die Ukraine in die Lage zu versetzen, über den Aggressor zu siegen und ihn militärisch zurückzudrängen.
Die Noch-Bundesregierung hat weder eine eigene "Siegesstrategie" für die Ukraine noch eine robuste Eindämmungsstrategie gegenüber Moskau entwickelt. Sie hat überhaupt keinen erkennbaren strategischen Ansatz gezeigt, außer Moskau nicht zu provozieren.
Dazu passt es leider, dass die politischen Parteien in Deutschland nie ernsthaft über den Siegesplan von Selenskyj diskutiert haben. Das müsste aber unser Ausgangspunkt sein - nicht die Frage, ob deutsche Soldaten als Teil einer etwaigen "Friedensmission" teilnehmen könnten.
Wenn wir nicht über die Köpfe der Ukrainer entscheiden wollen, dann müssten wir uns als Erstes fragen: Was können wir konkret tun, um den Plan der Ukraine zu unterstützen, welche Elemente sind daraus vorstellbar und welche nicht? Aber darüber reden wir in Deutschland nicht einmal.
Im Siegesplan von Selenskyj steht übrigens nichts von einer "Friedensmission". Warum diskutieren wir das also? Im Übrigen: Die baltischen und skandinavischen Staaten unterstützen den Siegesplan ganz offiziell. Nur unsere Regierung führt diese Geisterdebatte.
"Es gibt keine Alternative zum NATO-Beitritt"
tagesschau.de: Hängt es damit zusammen, dass die NATO-Staaten weiter eine Debatte über die Aufnahme der Ukraine vermeiden wollen?
Babst: Die Bundesregierung hat in den letzten drei Jahres alles unternommen, um die Ukraine auch nicht nur einen Zentimeter näher an den Beginn von Beitrittsgesprächen kommen zu lassen. Dabei wäre der Beginn von Beitrittsverhandlungen ein zentrales strategisches Signal, das wir an Moskau schicken könnten.
Zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gibt es keine ernsthafte Alternative; es sei denn, wir wollen Russland für seine Barbarei belohnen und einen neuen Eisernen Vorhang durch die Mitte Europas legen. Wenn wir dem Aufnahmewunsch der Ukraine immer ausweichen - und das tun wir jetzt seit 16 Jahren -, weil wir meinen, das würde Russland provozieren, werden wir uns weiter im Kreise drehen.
Sicherheitsgarantien für die Ukraine wären nur dann wirksam, wenn die betroffenen Nationen die Ukraine unter einen nuklearen und konventionellen Schutzschirm nehmen würden. Dann müsste Moskau, wenn es Lwiw oder Charkiw angreift, damit rechnen, eine massive Antwort zu bekommen.
Die Franzosen oder die Briten könnten das machen, aber auch sie scheuen davor zurück. Von welchen Sicherheitsgarantien reden wir also? Die Beistandsgarantie von Artikel fünf des NATO-Vertrags ist für Russland eine rote Linie. Solange die Ukraine außerhalb des NATO-Zauns ist, wird Putin weiter versuchen, sie zu vernichten.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de