NATO feiert Jubiläum Alles andere als "hirntot"
"No Action, Talk Only": Lange galt die NATO als Relikt des Kalten Kriegs. 75 Jahre nach der Gründung steht der Nordatlantikpakt von innen und außen unter Druck - und muss sich harte Grundsatzfragen stellen.
Der Ehrengast passt in eine Aktentasche. Zur 75-Jahre-Feier in Brüssel wurde die Gründungsurkunde, der Nordatlantikvertrag, extra aus Washington mit einer Linienmaschine eingeflogen. Dort wurde sie am 4. April 1949 von den Staats- und Regierungschefs von zwölf Ländern unterschrieben - unter ihnen die Vereinigten Staaten von Amerika. Für sie sprach der damalige Präsident Harry S. Truman:
Die Nationen, die das Dokument unterzeichnen, verpflichten sich den friedlichen Prinzipien der Vereinten Nationen, sie pflegen freundschaftliche Beziehungen und wirtschaftliche Kooperation, und wenn das Gebiet oder die Unabhängigkeit von einem bedroht ist, kommen sie ihm zur Hilfe.
Da ist er, der berühmte Artikel 5, der Beistandsartikel, alle für einen. Dass ihn 75 Jahre später mit Donald Trump ausgerechnet ein ehemaliger US-Präsident in Frage stellt, hätte sich damals wohl niemand vorstellen können.
1955 tritt die BRD bei
Zwölf Staaten waren es also, die unter dem Eindruck zweier Weltkriege Frieden und Freiheit über den europäischen Kontinent bringen wollten. Am Ende entstand die NATO aber vor allem aus der Angst vor der zunehmenden sowjetischen Aggression. Dagegen wollte Europa den starken Partner USA als Verbündeten wissen. West gegen Ost, Kommunismus gegen Kapitalismus - der Gegner für die NATO wohnt seit Anbeginn in Moskau.
Im Zentrum des Ost-West-Konfliktes: das geteilte Deutschland. Die Bundesrepublik wurde wenige Jahre später aufgenommen, am 9. Mai 1955, einen Tag nach dem Jahrestag der Kapitulation von Nazi-Deutschland. Es lag vor allem am damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer, dass die Länder, die von Deutschland überfallen und besetzt wurden, diesem Land wieder trauten.
Adenauer bedankte sich auf Deutsch: "Die Bundesregierung ist entschlossen, mit den anderen Mitgliedsstaaten für Frieden und Freiheit einzutreten. Ich weiß, dass das ganze deutsche Volk so fühlt und denkt. Auch die 18 Millionen, denen immer noch versagt ist, sich frei auszusprechen und über ihr Schicksal frei zu entscheiden" - gemeint waren die Einwohner der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Wenige Tage später, am 14. Mai 1955, gründete die Sowjetunion den Warschauer Pakt, in dem dann die DDR Mitglied wurde, zusammen mit anderen kommunistischen Staaten aus Mittel-, Ost und Südosteuropa.
2001: Die USA rufen den Bündnisfall aus
NATO gegen Warschauer Pakt: Es pendelte sich ein Gleichgewicht des Schreckens ein. Beide Bündnisse hatten genügend Atomwaffen, um einander zu vernichten. Und doch gab es auch immer wieder Abrüstungsverhandlungen. Im Dezember 1979 fassten die Mitgliedstaaten den sogenannten NATO-Doppelbeschluss. Während mit der Sowjetunion über den Abbau von Raketen verhandelt wurde, konnten die USA wieder atomare Mittelstreckenraketen in Europa stationieren. Die Angst vor einem erneuten Wettrüsten trieb Zehntausende auf die Straße.
Auch wenn die NATO als Verteidigungsbündnis geschaffen wurde, griff sie immer wieder in Konflikte ein: 1999 im Kosovo, später in Afghanistan, in Somalia: Oft beteiligten sich NATO-Truppen unter der Führung der USA an Einsätzen.
Die US-Amerikaner waren auch die einzigen, die jemals den Artikel 5, die Beistandsklausel, in Anspruch genommen haben: als Reaktion auf den Angriff auf das World Trade Center 2001 baten sie ihre Verbündeten, sie im Kampf gegen das Terrornetzwerk Al-Kaida zu unterstützen.
"No Action, Talk Only"?
Der Kampf gegen den Terror schien im neuen Jahrtausend die Aufgabe der NATO zu werden. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Beitritt vieler osteuropäischer Staaten wiegte sich das Bündnis in Sicherheit. Eine Phase der finanziellen und militärischen Trägheit begann.
NATO - "No Action, Talk Only" werden die vier Buchstaben einem damals geläufigen Witz zufolge übersetzt. Der französische Präsident Emmanuel Macron bezeichnet das Verteidigungsbündnis noch 2019 in einem Zeitungsinterview gar als "hirntot".
Die NATO wirkte wie ein satter Löwe, der keine Feinde mehr hat. Doch dann kam ein Großwildjäger mit blankem Oberkörper und rüttelte das Bündnis wach: Unter Wladimir Putin überfiel Russland die Ukraine, die sich Jahre zuvor den Beitritt zur NATO als Ziel in die Verfassung geschrieben hatte.
Zeit der Unruhe
Und auch im Inneren ist Unruhe ausgebrochen: US-Präsident Trump machte lautstark deutlich, dass er mehr Geld von den Mitgliedstaaten sehen will, spielte gar mit dem Gedanken an einen NATO-Austritt und droht im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf: Höhere Beiträge seien die Bedingung dafür, dass die USA ihre Beistandsverpflichtung erfüllen - wer nicht zahle, den werde er bei einem Angriff auch nicht beschützen.
Auch wenn noch nicht feststeht, wer die US-Wahl 2024 gewinnt: Die NATO will sich als Reaktion mit einer neuen Strategie unabhängiger von den USA machen - auch das ein historischer Schritt.
Wie bei vielen Jubiläen wird der eigentliche Feiertag im Brüsseler NATO-Hauptquartier eher klein gehalten: Es gibt Kuchen für alle, Reden und eine Erinnerung an die gefallenen Soldaten. Die große Party findet dann im Juli statt: beim NATO-Gipfel in Washington. Dann weiß man hoffentlich, wer der nächste NATO-Chef wird. Wer mit welcher Devise ins Weiße Haus einzieht, weiß die Allianz erst im November. Es zeichnet sich ab, dass zum Jubiläum für einen sentimentalen Rückblick wenig Zeit bleiben wird.