Schlagkräftig statt hirntot? Putins Krieg hat die NATO wiederbelebt
Vor wenigen Jahren bezeichnete Frankreichs Präsident Macron die NATO als "hirntot". Doch Kremlchef Putin hat es entgegen aller eigenen Ziele geschafft, sie mit seinem Krieg gegen die Ukraine wiederzubeleben.
In vielem hat Kremlchef Wladimir Putin durch den russischen Angriff auf die Ukraine das Gegenteil dessen erreicht, was er beabsichtigte. Das gilt auch für die NATO. Wenn er sie spalten wollte, so ist sie zuletzt zusammengewachsen wie nie. Wenn er sie schwächen wollte, so hat sie sich verstärkt wie lange nicht. Und wenn er ihre Ausbreitung verhindern wollte, dann ist sie größer geworden.
NATO dehnt sich nicht gezielt aus
31 Mitglieder hat sie jetzt, Schweden soll dazu kommen und - irgendwann vielleicht - die Ukraine. Das Beispiel Finnland, erst vor kurzem dem Bündnis beigetreten, zeigt besonders deutlich die völlig gescheiterte Außenpolitik Russlands: Wo es zuvor ein neutrales Land gab, hat Russland nun eine fast 1400 Kilometer lange Grenze zur NATO. Die hat nun zudem eine erhebliche Präsenz im Ostseeraum, inklusive deutscher Truppen im Baltikum.
Und anders als von Russland behauptet, dehnt sich die NATO nicht gezielt und womöglich auf amerikanischen Druck nach Osten hin aus. Es sind die Länder selbst, die aufgrund ihres Sicherheitsbedürfnisses die Nähe zum größten Militärbündnis der Welt suchen.
Zwei Drittel der Ausgaben entfallen auf USA
Das Militärbündnis weist allerdings eine Reihe von Ungleichgewichten auf. Mit mehr als 1,3 Millionen Soldaten verfügen die USA wenig überraschend über die größte Truppenstärke. Die Türkei mit fast 450.000 Kräften folgt mit deutlichem Abstand, aber immer noch mit mehr als doppelt so vielen Soldaten wie die Bundeswehr.
Hinzu kommt, dass die USA auch mit Abstand die größten militärischen Fähigkeiten bereitstellen. "Ohne ihre politischen, konventionellen und nuklearen Beiträge sind bis auf Weiteres weder eine glaubwürdige Abschreckung, noch die militärische Verteidigung Europas möglich", schreibt die Sicherheitsexpertin Claudia Major von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Ohne die USA hätte auch die Ukraine wohl längst den Krieg gegen Russland verloren - Washington hat den bei weitem größten Anteil an der Ukraine-Hilfe übernommen. Überhaupt läuft ohne die USA in der NATO wenig. Von knapp 1,2 Billionen Dollar Militärausgaben in der NATO im Jahr 2022 entfallen zwei Drittel auf die USA.
Europäische Ineffizienz
Doch es ist nicht allein das Geld, das die amerikanische Überlegenheit begründet. Es ist die Ineffizienz der Militärzusammenarbeit in Europa, die trotz stattlicher Ausgaben für ein Ungleichgewicht sorgt.
Die Europäer halten sechs Mal so viele Waffensysteme vor wie die USA, was einerseits hohe Kosten verursacht, aber auch die Zusammenarbeit erschwert. Manches Waffensystem gibt es in unterschiedlicher Form vielfach, etwa Fregatten oder Kampfpanzer oder spezielle Waffen, doch viele Systeme sind nicht kompatibel.
Türkei verfolgt eigene Interessen
Aber auch politisch ist die NATO alles andere als homogen. Die Türkei hat, geostrategisch an der Grenze Europas zum Nahen Osten gelegen, völlig andere Sicherheitsinteressen als Finnland.
Die Militäroffensiven der Türkei in Nordsyrien haben seit 2016 im Verteidigungsbündnis große Irritationen ausgelöst. Im Bündnis selbst ist die Türkei sehr geschickt darin, die eigenen Interessen voran zu bringen: Das Zögern beim Beitritt Schwedens zur Durchsetzung eigener Belange ist nur ein Beispiel.
Gleichzeitig verärgerten die Türken alle, als das Land 2017 das russische Luftabwehrsystem S-400 kaufte; die USA stoppten daraufhin den geplanten Verkauf von F-35-Kampfjets an Istanbul, weil sie ein Ausspionieren durch das S-400-System befürchteten. Über die Türkei umgehen überdies zahlreiche Unternehmen die EU-Sanktionen gegenüber Russland; qua Exporten mit Dual-Use-Charakter, die dem russischen Militär beim Nachschub helfen.
Und als es um türkische Interessen an Gasvorkommen im Mittelmeer ging, ließ die Regierung sogar ein Forschungsschiff von Marineschiffen begleiten, um vor griechischen Inseln, die in der Nähe der türkischen Küste liegen, Untersuchungen durchzuführen. Hier ging es also gar um einen Konflikt unter NATO-Partnern, der kurzfristig Gefahr lief, zu eskalieren und mit militärischen Mitteln ausgetragen zu werden.
Unterschiedliche Prioritäten
Dagegen richtet sich Finnlands Blick auf den Nachbarn Russland, mit dem es eine fast 1400 Kilometer lange gemeinsame Grenze hat. Militärisch sei das Land ein großer Gewinn für die NATO, sagen Experten. Natürlich wollen die Finnen nun auch, dass Schweden zügig beitritt, weil es den gesamten Raum Nordeuropas stärken würde.
Gleiches wollen die Balten; sie gehören zu jenen, die stets am stärksten Unterstützung für die Ukraine fordern. Zusammen mit Polen eint sie die Angst vor Russland - aus dem kollektiven, historischen Gedächtnis heraus, selbst so lange unter russischer Herrschaft gewesen zu sein.
Und dann sind da noch Deutschland und Frankreich. Beide wollen militärisch zusammen arbeiten, aber so richtig will es nicht funktionieren. Kampfflugzeuge und Panzer sollen zwar gemeinsam entwickelt werden, doch über die Ausrichtung und Produktion der Systeme können sich die Partner nicht richtig einigen. Erstmal hat Deutschland jetzt amerikanische Kampfflugzeuge bestellt.
Verteidigungspläne aktiviert
Es sind nur einige der vielen Schwierigkeiten, die das NATO-Bündnis bewältigen muss. Kein Wunder, dass immer wieder "Einigkeit" und die gemeinsame Position gegenüber Russland in allen Communiqués betont werden.
Vor wenigen Jahren noch hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die NATO als "hirntot" bezeichnet. Von dieser Formulierung hat Macron sich inzwischen deutlich entfernt, denn Putin höchstselbst hat die Allianz mit seinem Krieg gegen die Ukraine - trotz aller interner Konflikte - wiederbelebt.
Die NATO hat ihre Verteidigungspläne aktiviert und ist dabei, diese grundlegend zu aktualisieren. Erstmals seit dem Kalten Krieg bekommen sie "ausführbare" Strategien zur Verteidigung des gesamten Bündnisses. Dafür sollen 300.000 Soldaten bereit gestellt werden.
Größte Erhöhung der Ausgaben seit Jahrzehnten
An der Ostflanke hat die NATO ihre Kräfte bereits deutlich vergrößert und ein neues strategisches Konzept verabschiedet. Zudem werden die Militärausgaben in allen Mitgliedsstaaten deutlich erhöht, im Schnitt um 8,3 Prozent - es ist die größte Erhöhung seit Jahrzehnten.
Viele Absichten stehen noch auf dem Papier, und wie lange es dauert, bis aus Strategien operative Praxis wird, weiß man aus der Vergangenheit. Und dass ein neuer US-Präsident à la Donald Trump alles über den Haufen werfen kann ebenso. Dieser drohte auf dem Gipfeltreffen 2018 kaum verhohlen damit, aus der NATO auszutreten. Schon in rund eineinhalb Jahren wird in den USA ein neuer Präsident gewählt. Trotz Wiederbelebung des Bündnisses - die NATO bleibt eine Allianz der Gegensätze.