Kiews Bürgermeister Klitschko "Wir müssen demokratisch bleiben"
In der Ukraine gebe es die Tendenz, politische Entscheidungen wieder beim Präsidenten zu bündeln - zulasten der Regionen und der Demokratie, sagt Kiews Bürgermeister Klitschko. Den Zeitpunkt für Wahlen hält er dennoch für falsch.
ARD: Die Leute in Kiew sind wieder ständig mit Flugalarm beschäftigt. Alle sind in Angst. Haben Sie da auch Angst?
Vitali Klitschko: Angst? Das ist ein Gefühl von Natur aus. Derjenige, der keine Angst hat, lügt. Egal wie groß du bist, egal wie mutig du bist. Jeder Mensch hat diese Gefühle. Jeder von uns hat eine gewisse Angst. Und besonders in der heutigen Situation, wo wir sehr viele Tote sehen, sehr viele Verletzte. Angst hat jeder.
ARD: Der Ukraine fehlen Arbeitskräfte und vor allem fehlen der Ukraine Steuerzahler. Jetzt sagt Sergej Leschtschenko aus der Präsidialadministration: Die Ukrainer im Ausland werden gebraucht. Die Europäische Union sollte aufhören, diese Ukrainer zu unterstützen. Würden Sie zustimmen? Und würden Sie auch sagen: Wir müssen unsere Landsleute aus Deutschland, Polen, von woher auch immer zurückrufen?
Klitschko: Ich habe dieses Interview von Sergej Leschtschenko auch gelesen. Ich war richtig überrascht, denn wenn wir ein demokratisches Land sind und dann Menschen dazu zwingen, in die Ukraine zu kommen, verstößt das meiner Meinung nach gegen Menschenrechte. Jeder hat ein Recht, Schutz zu bekommen und keiner kann Menschen, die sich im Ausland befinden, zwingen, zurückzukommen. Wir können Menschen überzeugen. Wir können Menschen rufen. Wir können bitten, aber zu zwingen, denke ich, ist nicht der richtige Weg.
ARD: Es gibt hier seit dem Krieg nicht nur Sie als Bürgermeister von Kiew, sondern auch eine Militäradministration. Was kann die besser als Sie?
Klitschko: Bestimmt ist eine Militäradministration sehr notwendig in den Regionen ganz nah an der Front.
Selbstverwaltung: "Grundstein für Demokratie"
ARD: Aber Kiew ist mehrere hundert Kilometer von der Front entfernt. Ist das Einsetzen von Militäradministrationen in Städten wie Kiew oder Riwne der Versuch einer Zentralisierung?
Klitschko: Wissen Sie, was ein Paradox ist? Gesetzlich ist es schwierig zu sagen: Wo beginnen und wo enden die Funktionen von Militäradministration? Klare Trennlinien zwischen Selbstverwaltung und Militärdienst gibt es nicht.
ARD: Die Selbstverwaltung ist einer der größten Erfolge der demokratischen Gesellschaft in der Ukraine. Würden Sie zustimmen, dass der Krieg als Vorwand benutzt wird, wieder zurück zur Zentralisierung zu kommen?
Klitschko: Da haben Sie recht, denn Selbstverwaltungsreformen und Dezentralisierungsreformen waren einige der erfolgreichsten Reformen in den letzten Jahren. Und deswegen haben die Menschen mehr Einfluss auf ihre Stadt und ihre Straßen. Und das ist ein sehr großer Erfolg, und es ist kein Geheimnis: Selbstverwaltung ist in jedem demokratischen Land eine Basis, ein Grundstein für Demokratie.
ARD: Sie haben in diesem Zusammenhang vor Autoritarismus gewarnt. Würden Sie sagen, dass das wirklich eine ernsthafte Gefahr ist in diesem Land?
Klitschko: Ich möchte nicht kritisieren, denn in der heutigen Zeit Spannungen im Land zu haben, ist nicht gut - auf der einen Seite. Aber auf der anderen Seite sehen wir, dass wir unsere demokratischen Werte verlieren. Und zu schweigen, nicht darauf aufmerksam zu machen, wenn wir sehen, wie wir die demokratischen Errungenschaften verlieren, das würde bedeuten, einverstanden zu sein.
"Gefährliche Tendenz" zur Zentralisierung
ARD: Wir sehen auch, dass der Druck auf die Presse steigt: Die Einschüchterungsversuche gegen Journalisten, dass die Opposition praktisch nicht zu sehen ist, die Debatten des Parlaments werden mitten in der Nacht gezeigt. Man hat - von außen betrachtet - den Eindruck: In der Ukraine gibt es nur den Präsidenten Selenskyj.
Klitschko: Da haben Sie recht. Wir sehen die Tendenz zur Zentralisierung von Medien. Wir sehen Zentralisierung, was die Entscheidungen betrifft. Eine gefährliche Tendenz - und deswegen: Nicht darüber zu sprechen, bedeutet, einverstanden zu sein. Nein! Wir müssen demokratisch bleiben. Ich spreche auch als Leiter des Städteverbands der Ukraine - es gibt die Gefahr, unsere demokratischen Ergebnisse zu verlieren, was wir in den letzten Jahren gehabt haben. Sogar im Krieg müssen demokratische Grundsteine bleiben, sonst wird der Unterschied zu unserem östlichen Nachbarn nicht mehr groß sein.
ARD: Sie meinen Russland. Man hat zu Beginn des Krieges gesehen, dass es ganz entscheidend für die Sicherheit war, dass zum Beispiel die territoriale Selbstverteidigung funktioniert, dass die Städte und Gemeinden für ihre eigene Sicherheit verantwortlich sind...
Klitschko: Besonders in den ersten Monaten hat die Selbstverwaltung eine wichtige Rolle gespielt, was die territoriale Verteidigung betrifft, die Unterstützung der Armee, den Schutz der Städte, die Evakuierung. Die Russen sehen das und es ist kein Geheimnis: Ihre ersten Ziele waren die Bürgermeister. 37 wurden gekidnappt, einer wurde erschossen und bis heute sind fünf vermisst.
"Leider sehen wir einen politischen Wettbewerb"
ARD: Sprechen Sie über diese besorgniserregende Entwicklung mit dem Präsidenten? Ich habe gelesen, dass Sie seit zwei Jahren nicht mit dem Präsidenten reden.
Klitschko: Schade, es stimmt. Seit Beginn des Krieges haben wir uns nicht einmal getroffen.
ARD: Und haben Sie mal telefoniert?
Klitschko: Habe ich versucht. Zig mal! Aber leider…
ARD: Ist das richtig, mitten im Krieg, dass der Bürgermeister und der Präsident nicht miteinander sprechen? Oder anders gefragt: Wer spricht da nicht mit wem?
Klitschko: Wir sprechen mit allen. Leider sehen wir einen politischen Wettbewerb.
"Eine Wahl wäre ein großer Fehler"
ARD: Aber Wahlen gibt es nicht...
Klitschko: Sehr viele diskutieren das mit unseren westlichen Partnern, weil die Zeit abgelaufen ist für unser Parlament und weil die Zeit ablaufen wird für das Präsidentschaftsamt - für Herrn Selenskyj. Meiner Meinung nach ist das eine besondere Situation. Und eine Wahl, das ist ein Wettkampf, das ist ein Wettbewerb. Und das in einem Land, wo wir eine sehr große Herausforderung von russischer Seite haben; das kann das Land von innen zerstören.
Zweitens: Neun Millionen Ukrainer befinden sich im Ausland. Ein großer Teil unserer Bevölkerung befindet sich jetzt an der Front, wo sie als Soldaten kämpfen. Und jetzt noch dazu Wahlen zu machen, das braucht sehr große finanzielle Ressourcen. Eine Wahl zu machen, das wäre ein großer Fehler.
ARD: Aber dann wäre es doch umso wichtiger, miteinander zu sprechen. Was würden Sie Herrn Selenskyj sagen, wenn Sie ihn jetzt sprechen könnten?
Klitschko: Eine Funktion eines Präsidenten ist: Er muss die Gesellschaft einigen. Er muss eine Figur sein, die alle zusammenbringt, Schulter an Schulter. Heute sprechen wir über die Zukunft unseres Landes - ob die Ukraine existiert oder nicht. Wir müssen demokratisch bleiben, deswegen sind manchmal viele überrascht, dass Medien oder Journalisten Druck von der Zentralmacht spüren. Die Wirtschaft spricht von Druck von der zentralen Regierung. Deswegen denke ich, das ist ein Fehler. Deswegen muss man das, wo es notwendig ist, korrigieren. Und der Präsident? Der trägt eine wahnsinnige Verantwortung für das ganze Land. Das ganze Land muss reden - mit einer Stimme.
Klitschko zeigt seine Bewunderung für den ukrainischen Generalstabschef Saluschnyj. Ein Zufall, dass dessen Beziehung zu Präsident Selenskyj als angespannt gilt?
"Militärs brauchen Unterstützung"
ARD: Ich habe gesehen, dass in Ihrem Büro kein Foto des Präsidenten hängt, aber ein Foto vom Generalstabschef Saluschnyj.
Klitschko: Wir haben ein gutes Verhältnis. Und unsere Militärs brauchen sehr viel Unterstützung. Und wir versuchen alles, was möglich ist, um unserem Militär zu helfen. Mit Uniformen, Schutzwesten, das betrifft Helme, das betrifft Drohnen, das betrifft die Militärfinanzierung ...
ARD: Jetzt sind drei Namen auf dem Tisch: Selenskyj, Sie - Herr Klitschko, Saluschnyj. Alle werden mit dem Amt des künftigen Präsidenten verbunden. Macht das die Sache so kompliziert?
Klitschko: Meine Message für jeden Politiker ist: Eine Konkurrenz in der heutigen Zeit, wo sich die Frage stellt, ob die Ukraine existiert oder nicht - das wäre ein riesiger Fehler.
Das Gespräch führte Sabine Adler für das ARD-Studio Kiew. Das Interview wurde für die schriftliche Fassung angepasst.