Vor Griechenland gesunken Wie kam es zu dem verheerenden Bootsunglück?
Ein überfülltes Migrantenboot ist auf dem Weg nach Europa. Die Besatzung lehnt Hilfe ab, dann sinkt es. Viele Menschen sterben. Wer ist schuld? In Griechenland wird dies zum Wahlkampfthema.
Vincent Cochetel, Sonderbeauftragter für den Mittelmeerraum beim UN-Flüchtlingshilfswerk, ist einer, der offensichtlich keine Scheu hat, anzuecken. Er ist bekannt für seine pointierten Aussagen. Auch jetzt, nach dem Bootsunglück vor Griechenland, findet er klare Worte: Die griechische Küstenwache hätte handeln müssen, sagt er.
Fotos zeigten klar, dass das Boot überfüllt und nicht seetauglich war, ein Risiko für die Passagiere. "Was auch immer die Menschen zur Küstenwache oder den Frachtern, die in ihrer Nähe waren, gesagt oder vielleicht gesagt haben, dieses Boot hätte nicht weiterfahren dürfen", so Cochetel.
Küstenwache: Migranten lehnten Hilfe ab
Sowohl die griechische Küstenwache als auch die Besatzung eines Frachters haben ausgesagt, dass den Migranten auf dem Boot mehrmals von griechischer Seite Hilfe angeboten wurde - die Menschen auf dem Boot hätten diese aber wiederholt abgelehnt. Sie hätten weiter nach Italien gewollt und nicht nach Griechenland.
Immer wieder kritisieren Menschenrechtsaktivisten, dass die Camps in Griechenland völlig überfüllt sind. Für die Menschen gebe es kaum eine Perspektive oder realistische Chance, nach Mittel- oder Nordeuropa weiterreisen zu können.
Ein Eingreifen gegen den Willen der Passagiere sei mit dem Risiko verbunden gewesen, das Boot selbst zum Sinken zu bringen, erklärt der Sprecher der griechischen Küstenwache, Nikos Alexiou.
Das Fischerboot war nach jetzigen Erkenntnissen in Ägypten gestartet, hatte in Libyen weitere Menschen an Bord genommen und hatte dann, mit schätzungsweise 500 bis 700 Personen an Bord, Kurs auf Italien aufgenommen. Diese direkte Route über das zentrale Mittelmeer gilt als eine der gefährlichsten Fluchtrouten nach Europa. Im Moment nehmen sie jedoch immer mehr Menschen, um Griechenland zu umgehen.
Wer trägt die Verantwortung?
Sowohl die griechische Küstenwache als auch die Grenzschutzagentur Frontex wussten von dem Boot, schon bevor es kenterte - das ist sicher.
Nur, was in dieser Nacht dann genau passierte, als der überladene Fischkutter rund 50 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes in internationalen Gewässern sank, ist immer noch unklar. Es gibt viele Gerüchte und viele unterschiedliche Interpretationen dazu, wer die Verantwortung für das Unglück mit den vermutlich Hunderten Toten trägt.
Küstenwache spricht von Maschinenschaden als Ursache
Nach einem dieser unbestätigten Berichte, über die griechische Zeitungen und Fernsehsender berichten, soll die Besatzung eines Schiffs der Küstenwache ein blaues Seil zum Fischerboot geworfen haben - offenbar mit der Absicht, es in Schlepptau zu nehmen. Dadurch soll das Boot gekentert sein.
Die Küstenwache weist diese Vorwürfe entschieden zurück: "Es gab keinen Versuch, das Boot in Schlepptau zu nehmen - weder durch uns noch durch ein anderes Schiff", sagt der Sprecher der griechischen Küstenwache. Nach seinen Angaben wurde nur für einige Minuten ein Seil auf das Boot hinübergeworfen, um es zu stabilisieren und um zu schauen, ob die Migranten Hilfe bräuchten. Diese hätten das Seil jedoch ins Wasser geworfen und ihre Fahrt fortgesetzt.
Irgendwann habe sich das Boot nicht mehr bewegt, die Migranten an Bord hätten von einem Maschinenschaden gesprochen, so lautet die Version der Küstenwache. Wenig später sei das Boot gekentert und innerhalb kürzester Zeit gesunken.
Bootsunglück als Wahlkampfthema
In Griechenland selbst ist das Unglück zum Wahlkampfthema geworden. Am 25. Juni wählen die Griechen ein neues Parlament, derzeit liegt die konservative Nea Dimokratia von Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis weit vorne.
Alexis Tsipras, der Chef der größten linken Oppositionspartei Syriza, besuchte gestern Kalamata, den Ort, an den die Überlebenden zunächst gebracht wurden. Für ihn ist die Küstenwache mitschuldig an dem Unglück, sie hätte früher eingreifen müssen.
Marian Wendt, der Leiter des Griechenland-Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung, sieht das anders. Die Küstenwache habe verantwortungsvoll gehandelt und im rechtlichen Rahmen alles Mögliche getan. In einem ausführlichen Thread auf Twitter schreibt Wendt: "Es gibt, wenn sich das Schiff in internationalen Gewässern befindet, weder eine rechtliche Handhabe, mit Zwang zu evakuieren", noch sei das gegen den Willen der Besatzung möglich und zudem auch technisch schwierig.
Cochetel: Küstenwachen spielen Notlagen immer wieder herunter
Was genau bei diesem Unglück passiert ist, wird sich vermutlich nicht mehr rekonstruieren lassen. Für Cochetel, den meinungsstarken UN-Sonderbeauftragten, gibt es ein grundsätzliches Problem beim Umgang mit den Migrantenbooten. Schiffsnotlagen würden immer wieder von Küstenwachen einiger Mittelmeeranrainerstaaten heruntergespielt, in der Hoffnung, dass die Boote voller Menschen die Fahrt bis in italienische Gewässer fortsetzen werden.
Manche Küstenwachen gingen sogar so weit, Essen, Wasser und Schwimmwesten zu verteilen und Boote wieder vollzutanken, nur um sicherzugehen, dass die Menschen das eigene Hoheitsgewässer wieder verlassen. Aus Sicht des UN-Flüchtlingshilfswerks ist das völlig verantwortungslos.