Vor Stichwahl in Frankreich Taktischer Rückzug gegen extreme Rechte
Vor der zweiten Parlamentswahlrunde haben sich mehr als 200 Kandidaten zurückgezogen. Viele wollen so eine Machtübernahme der extrem Rechten verhindern. Aber vieles ist noch unklar.
Sie hat es getan: Albane Branlant von der Präsidentenpartei Renaissance hat sich für die Stichwahl am Sonntag qualifiziert - doch sie tritt nicht an. Zuerst wolle sie ihren Wählern danken, sagte sie. Aber wegen des Risikos einer absoluten Mehrheit für den extrem rechten Rassemblement National (RN) ziehe sie ihre Kandidatur zurück: "Ich mache einen Unterschied zwischen politischen Gegnern und Feinden der Republik."
Nur Platz drei
Der RN ist ihr Feind, die links-grüne Neue Volksfront normalerweise ihr politischer Gegner. Doch ihr spielt die erst 27-jährige Kommunikationsfachfrau und Freizeitbasketballerin nun den Ball zu. Denn in der ersten Runde lag sie in ihrem Wahlkreis bei Amiens im Norden nur auf Platz drei. Obwohl sie in dem ländlichen, aber auch durch Industriebrachen geprägten Raum populäre Themen gesetzt hat - wie mehr Ärzte auf dem Land oder bessere Verkehrsanbindung.
Doch sie holte nur rund 23 Prozent der Stimmen. Der Volksfront-Kandidat François Ruffin kam auf fast 34 Prozent und die RN-Kandidatin Nathalie Ribeiro-Billet holte mehr als 40 Prozent.
Rücktritt heiße ja nicht Beitritt, so die offizielle Parole des Präsidentenlagers. Branlants Wahlempfehlung ist dennoch nur indirekt, Ruffin hätte sie klarer gewünscht, aber: "Wir sind im Spiel. Wir führen dieses Match."
Erst 76 Mandate sind vergeben
Von den 577 Abgeordnetenmandaten wurden im ersten Wahlgang erst 76 vergeben, die meisten an den RN von Marine Le Pen. 501 Mandate aber sind noch umkämpft. Wer mindestens 12, 5 Prozent der Stimmen erhalten hatte, konnte bis Dienstag 18 Uhr im Innenministerium seine Kandidatur für die Stichwahl bestätigen. Oder auch nicht.
Sehr viele, nämlich mehr als 210 Kandidaten haben zurückgezogen, davon rund 130 vom links-grünen Bündnis Neue Volksfront. Es hat auch die klarste Wahlempfehlung ausgesprochen.
Aber nur gut 80 aus dem Präsidentenlager, darunter mehrere Minister, zogen sich zurück. Hier herrschte eher eine Kakofonie an Wahlempfehlungen: Rückzug zum Beispiel nur, wenn der Volksfrontkandidat Sozialist oder Grüner sei, aber kein extrem Linker.
RN will absolute Mehrheit
Von den rund 300 Wahlkreisen mit drei und mehr Kandidaten bleibt nun immerhin etwa ein Drittel übrig. Dies könnte dem RN nutzen, die hohe Zahl der zurückgezogenen Kandidaturen ihm aber schaden. Reicht es also zur absoluten Mehrheit? Nur dann will Le Pen ihren jungen Parteichef Jordan Bardella, der gerade ein Jahr älter als Branlant von der Präsidentenpartei Renaissance ist, als Premierminister sehen.
"Wir können nicht akzeptieren, die Regierung zu übernehmen, wenn wir nicht handeln können", sagte sie. "Denn unsere Wähler fordern von uns, die derzeitige Politik zu ändern. Wenn wir sie nicht ändern können und nur regieren würden, um uns in die Ministersessel zu setzen, wäre das der schlimmste Verrat an unseren Wählern." Sollten nur wenige Stimmen zur absoluten Mehrheit fehlen, werde man sie suchen.
Ton im Wahlkampf wird schärfer
Im Übrigen zitiert Le Pen die Gerüchteküche, nach der Präsident Emmanuel Macron wichtige Schaltstellen der Macht schnell noch mit getreuen Sicherheitsleuten besetzen wolle und nennt dies einen "administrativen Staatsstreich". Gabriel Attal, ein müde wirkender Premier auf Wahlkampftour winkt ab: "Alles nur große Gesten und Worte, um ihre Panik zu maskieren."
Der Politologe Bruno Cautrès erklärt den Schlagabtausch als normales Wahlkampfende, bei dem der Ton schärfer und dramatisiert werde. "Das Macron-Lager will zeigen, dass der RN eine Gefahr für wichtige Posten bedeute, der wiederum mobilisiert seine Wählerschaft und sagt: Das Macron-Lager mache keine Geschenke."
Bekommt Frankreich eine extrem rechte Regierung? Ein politisches Patt, eine Koalition oder ein Expertenkabinett? Und: Folgen Franzosen und Französinnen eigentlich den Wahlempfehlungen? Eine IPSOS-Studie besagt, etwa 60 Prozent der linken, aber nur rund 40 Prozent der Wähler des Präsidentenlagers wollen dem jeweils anderen die Stimme geben, wenn man selbst nicht mehr dabei ist.
Die großen Fragen klären sich also erst am Sonntag.