Neuer Premier in Frankreich "Attal kann auch zum rechten Lager sprechen"
Ein junger Premierminister soll der angeschlagenen Regierung von Frankreichs Präsident Macron neuen Schwung geben. Der Frankreich-Experte Seidendorf erklärt, welche Probleme Attal erbt - und was er anders machen kann.
tagesschau.de: Elisabeth Borne hat in ihrer Rücktrittserklärung geschrieben, sie müsse zurücktreten. Wie lesen Sie das? War das ein Abgang wider Willen?
Stefan Seidendorf: Ich denke, sie wäre gerne noch eine Weile im Amt geblieben. In der französischen Verfassung, die sehr stark durch den Präsidenten dominiert wird, ist der Premierminister stärker abhängig vom Präsidenten als vom Parlament. Er kann sogar ohne Vertrauensabstimmungen im Parlament regieren, solange er das Vertrauen des Präsidenten hat.
"Borne ging die Puste aus"
tagesschau.de: Das hatte Borne offenbar nicht mehr. Woran ist sie Ihrer Einschätzung nach gescheitert?
Seidendorf: Ihre Bilanz kann sich angesichts der Umstände durchaus sehen lassen. Aus der Parlamentswahl 2022 ging keine klare Mehrheit hervor. Die größte Fraktion unterstützt Präsident Macron, aber sie hat keine absolute Mehrheit; zugleich gibt es keine Mehrheit gegen sie. In dieser Situation hat Borne mit wechselnden Mehrheiten immerhin mehr als 40 Gesetzesvorhaben durchgebracht - vor allem die sehr umstrittene Rentenreform und die Reform des Einwanderungsgesetzes. Und trotzdem ging ihr jetzt ein Stück weit die Puste aus.
Meistens ist so ein Wechsel des Premierministers während der laufenden Legislatur ein Zeichen, dass der Präsident einen neuen Elan benötigt oder auch einen Sündenbock sucht. Und das ist hier beides ein Stück weit der Fall. Macron war bei der Reform des Einwanderungsgesetzes zum ersten Mal damit konfrontiert, dass seine eigene Fraktion nicht zu 100 Prozent hinter Borne stand, sondern sich darüber zerstritten hat. Wenn man keine absolute Mehrheit hat und dann auch die eigene Fraktion von der Stange geht, ist das fatal. Und das wird ihr wahrscheinlich von Macron zum Vorwurf gemacht. Hier würde ich die Bruchlinie sehen.
"Einer der politischen Stars in Frankreich"
tagesschau.de: Nun gibt es einen Nachfolger, Gabriel Attal. Wofür steht er?
Seidendorf: Attal unterscheidet er sich stark von Borne und auch von deren Vorgänger Jean Castex - beide waren Technokraten, etwas spröde, die dem Präsidenten die ganze Bühne gelassen hatten. Attal ist sehr jung, 34 Jahre, der jüngste Premierminister der Fünften Republik und im Moment einer der politischen Stars in Frankreich. Er hat viel bessere Zustimmungswerte als der Präsident selbst und verkörpert die Ausrichtung von Macrons Partei, dass man weder links noch rechts sein, sondern in der Mitte die Probleme angehen wollte.
Er ist sehr erfolgreich darin, sich selbst zu verkaufen, war an mehreren wichtigen Stellen kurz Minister, zuletzt im Bildungsressort, was in Frankreich eine sehr wichtige Position darstellt. Obwohl er dort nur rund fünf Monate war, hat er es geschafft, einen Aufbruch zu verkörpern, der vor allem in seiner Person und seiner Art, Politik zu machen und sich selbst zu verkaufen, begründet lag.
"Bekommt der junge Nachfolger das hin?"
tagesschau.de: Die Mehrheitsverhältnisse im Parlament ändern sich aber nicht. Wird Attal nicht vor demselben Problem stehen wie Borne?
Seidendorf: Ganz sicher, vielleicht sogar noch mehr, weil die verschiedenen Oppositionskräfte Morgenluft wittern werden. Borne war Verwaltungsspezialistin und hat es immer geschafft, dass am Ende die Verfahren und die Mehrheiten gestanden haben, auch wenn es manchmal über Umwege ging, wie zuletzt beim Einwanderungsgesetz. Ich will erst mal sehen, ob der junge Nachfolger das auch hinbekommt.
Borne hatte immer angestrebt, mit den gemäßigten Konservativen, mit den Republikanern, eine Zusammenarbeit zu finden. Das ist ja nicht gelungen und ich denke, dass das auch Attal nicht gelingen wird, weil er stärker als Sozialdemokrat markiert ist als sie. Außerdem steht der Europawahlkampf bevor, der in Frankreich stark über nationale Themen laufen wird.
"Attal kann auch zum rechten Lage sprechen"
tagesschau.de: Haben Borne und Macron im Grunde nicht sogar die konservativen und die rechten Parteien gestärkt?
Seidendorf: Beim Migrationsgesetz gab es den Versuch, unter den gemäßigten Rechten eine Zustimmung zu bekommen - die dann aber große Teile des Gesetzes beeinflusst haben. Insofern war die Strategie nicht überzeugend. Das Gesetz wurde verabschiedet um den Preis des Streits im Präsidentenlager, und das wird man so nicht oft wiederholen können. Einige Minister drohten damit, zurückzutreten. Attal hielt sich dabei erstaunlich bedeckt.
Er hat in seiner Zeit als Bildungsminister versucht, eine linksrepublikanische Linie zu fahren: Bildung als das zentrale Instrument, das es allen Schichten ermöglichen soll, sich zu emanzipieren, aber verbunden mit einer Botschaft der Autorität - Autorität des Lehrpersonals, Autorität der Republik gegenüber denjenigen, die diese Bildung oder auch die Autorität der Schule infrage stellen. Er hat aber auch versucht, sich auch nach rechts hin abzusichern, indem er unter anderem vorgeschlagen hat, dass Schuluniformen eingeführt werden. Von daher ist er jemand, der auch zu dem rechten Lager sprechen kann. Aber er wird sich nicht mit den Rechtsaußen und Rechtsextremen gemein machen.
"Rendezvous mit der Nation" - und dann?
tagesschau.de: Haben Sie den Eindruck, dass Macron inzwischen einen Umgang damit gefunden hat, dass er sich im Parlament Mehrheiten suchen und stärker für seine Politik werben muss?
Seidendorf: Im Rahmen der französischen Verfassung verfügt ein Präsident über weitreichende Vollmachten. Er kann das Instrument des Artikels 49 III anwenden. Wenn es kein konstruktives Misstrauensvotum gegen die Premierministerin gibt, ist ein Gesetzesvorschlag angenommen, auch ohne eigene Mehrheit. Das hat die nun zurückgetretene Premierministerin sehr häufig benutzt. Damit ist ein Gesetz zwar legal zustande gekommen, aber die Frage nach der Legitimität stellt sich doch. Macron hat sich wenig darum gekümmert, Zustimmung zu seinen Gesetzesvorhaben einzuholen und steckt jetzt in einem Zustimmungstief - das ist ein genaues Abbild der schwierigen Situation im Parlament.
Für den Januar hat er einen Neustart angekündigt, ein "Rendezvous mit der Nation". Die Regierungsumbildung ist der erste Schritt dazu. Was danach kommt, weiß man nicht genau. Macron hat in der Vergangenheit verschiedene Versuche mit partizipativen Instrumenten gemacht - Bürgerbeteiligung, Bürgerräten. Ob er in diese Richtung denkt?
tagesschau.de: Signale im Sinne von "Wir haben verstanden" hat Macron schon mehrmals ausgesandt. Nimmt man ihm das noch ab?
Seidendorf: Die ihn ablehnenden Menschen hat das nicht überzeugt. Vielmehr wird das als PR oder sogar Propaganda abgetan. Man spricht diesen Versuchen die Aufrichtigkeit ab. Dabei waren einige Reformen von ihm von Erfolg gekrönt. Er hat schwierige Gesetzesvorschläge zur Energiewende oder zum Klimawandel über Bürgerräte entwickeln lassen und dann in großen Teilen auch umgesetzt. Aber das ist ihm nicht gedankt worden.
"Die Stimmung ist schlecht"
tagesschau.de: Macron wollte seine zweite Amtszeit liberaler gestalten. Was ist davon geblieben?
Seidendorf: Einerseits hat die Präsidialverfassung in Frankreich stets dafür gesorgt, dass noch jeder Präsident der Versuchung erlegen ist, diese große Machtfülle zu nutzen. Macron regiert mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Am Anfang hat er das damit begründet, dass der Reformstau so gewaltig sei, dass man durchregieren müsse. Das haben ihm die Leute auch abgenommen und gut gefunden.
Jetzt ist die Opposition zwar ohne strukturierte Mehrheit gegen ihn, aber doch sehr lautstark - auf der extremen Linken wie auf der extremen Rechten, und die Stimmung ist schlecht. Da kommt ein Regieren mit den Instrumenten der Präsidialverfassung umso schlechter an. Macron wird vorgeworfen, dass er zunehmend autoritär sei und autoritär regiere. Das Einwanderungsgesetz wäre ein Beispiel dafür. Davon kommt er nicht mehr los.
tagesschau.de: Profitiert davon nicht am Ende die extreme Rechte, so dass bei der nächsten Präsidentschaftswahl Marine Le Pen gewinnen könnte?
Seidendorf: Präsidentschaftswahlkämpfe sind in Frankreich häufig kurz und heftig. Von daher ist es noch lange nicht ausgemacht, dass tatsächlich Marine Le Pen in den Präsidentenpalast einziehen kann. Im Moment versucht sie einfach, gar nichts zu machen und möglichst nicht unangenehm aufzufallen. Und vieles läuft auf sie hinaus.
Aber es gibt im Umfeld von Macron Kandidaten, denen zugetraut wird, eine bürgerlich konservative Mehrheit für sich zu gewinnen und Präsident zu werden. Es kann sein, dass sich die konstruktive Linke, die bereit ist, Regierungsverantwortung zu übernehmen, aufrappelt und einen Neustart sucht. Noch ist alles offen.
Das Gespräch führte Eckart Aretz, tagesschau.de