Flucht und Migration Neuer Anlauf für eine gemeinsame EU-Asylpolitik?
Derzeit erreichen wieder mehr Migrantinnen und Migranten die EU. Dies befeuert die Debatte nicht nur in Deutschland. Könnte eine gemeinsame EU-Asylpolitik nun vorankommen? Wichtige Antworten zum Thema.
Deutschland verzeichnet für das erste Halbjahr 2023 so viele neue Asylbewerberinnen und -bewerber wie seit sieben Jahren nicht. In Italien sind allein auf der Insel Lampedusa vergangene Woche an einem Tag etwa 5.000 irreguläre Migrantinnen und Migranten mit Booten angekommen. In Europa wird dies vielerorts als Problem wahrgenommen. Doch wegen der offenen Binnengrenzen können einzelne Staaten es nicht allein lösen, wie Innenministerin Nancy Faeser (SPD) betont.
Warum kocht die Debatte in Deutschland wieder hoch?
Seit einigen Monaten kommen wieder deutlich mehr Asylbewerberinnen und -bewerber nach Deutschland. In den ersten acht Monaten dieses Jahres haben 204.461 Menschen hierzulande erstmals einen Asylantrag gestellt. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2022 waren es nur wenig mehr - nämlich 217.774 Erstanträge. Da seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auch mehr als eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge in Deutschland aufgenommen wurden, fehlt es vielerorts an Wohnraum.
Engpässe sind teilweise auch bei der Gesundheitsversorgung sowie in Schulen und Kitas spürbar. Außerdem leisten an manchen Orten Anwohnerinnen und Anwohner Widerstand gegen die Ansiedlung einer größeren Zahl von Asylbewerberinnen und -bewerbern. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hatte am Wochenende gesagt, es brauche eine "Integrationsgrenze" von höchstens 200.000 Migranten pro Jahr. Diese Zahl orientiere sich daran, was die Kommunen leisten könnten.
Was tut die Bundesregierung?
Faeser hatte im Juni dazu beigetragen, dass sich die EU-Innenminister auf Kernpunkte einer Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) einigen. Danach sollten Asylanträge von Migranten, die aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent stammen, bereits an den EU-Außengrenzen innerhalb von zwölf Wochen geprüft werden. In dieser Zeit will man die Schutzsuchenden verpflichten, in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen zu bleiben.
Wer keine Chance auf Asyl hat, soll umgehend zurückgeschickt werden. Ein Sprecher des Bundesinnenministeriums sagte außerdem: "Die grenzpolizeilichen Maßnahmen haben wir deutlich intensiviert". Doch zurückschicken beziehungsweise abweisen darf die Bundespolizei niemanden, der an der Grenze um Asyl bittet - es sei denn, es besteht ein Einreiseverbot.
Was wollen die Länder und Kommunen?
Zu den wichtigsten Forderungen der Länder gehört eine stärkere finanzielle Beteiligung des Bundes an den Kosten für die Unterbringung, Versorgung und Integration von Migrantinnen und Migranten. Außerdem heißt es vielerorts, der Bund solle sich stärker um eine Reduzierung der irregulären Migration nach Deutschland bemühen - auch, weil die Abschiebung abgelehnter Asylbewerberinnen und -bewerber mühselig ist und oft nicht gelingt.
Wie aussichtsreich ist eine Einigung in der EU?
Die EU-Staaten ringen nicht erst seit der umfangreichen Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 um einen gemeinsamen Kurs in der Asylpolitik. Zuletzt hatte es im Kreis der Innenminister zwar eine Mehrheit dafür gegeben, die Regeln zu verschärfen. Ob das wirklich so kommt, ist allerdings unklar, da sie noch mit dem Europaparlament abgestimmt werden müssen. Und die Zeit läuft ab: Im Juni wird das EU-Parlament neu gewählt.
Besonders um die Krisenverordnung gibt es Gezerre. Diese sieht etwa längere Fristen für die Registrierung von Asylgesuchen an den Außengrenzen vor, außerdem die Möglichkeit für niedrigere Standards bei Unterbringung und Versorgung. Die Bundesregierung sieht das Vorhaben eher skeptisch, Polen und Ungarn gehen die Pläne dagegen nicht weit genug. Die Gespräche auf EU-Ebene dazu sollten eigentlich im Juli abgeschlossen sein - doch die Bundesregierung enthielt sich. Bislang ist noch unklar, ob der Streit über die Krisenverordnung andere Teile der Asylreform blockieren könnte.
Funktioniert der freiwillige Solidaritätsmechanismus?
Dieser Mechanismus, bei dem nur wenige EU-Staaten mitmachen, war geschaffen worden, um Staaten an den Außengrenzen wie Italien zu entlasten. Faeser hatte zugesagt, bis zu 3.500 Menschen aufzunehmen, die dann in Deutschland ein Asylverfahren durchlaufen. Bis heute hat Deutschland mehr als 1.800 Menschen über diesen Mechanismus aufgenommen, davon etwa 1.000 Schutzsuchende, die vorher in Italien waren.
Über bereits ausgewählte Asylbewerber hinaus will Deutschland nun vorerst keine Menschen mehr aus Italien aufnehmen, da das Land seiner Verpflichtung zur Rückübernahme bereits registrierter Schutzsuchender nicht nachkomme. Laut Bundesinnenministerium hat Deutschland seit Jahresbeginn rund 12.400 Anträge auf sogenannte Dublin-Überstellungen an Italien gestellt. Übernommen wurden aber demnach nur zehn Menschen - ausschließlich Asylbewerberinnen und -bewerber, die freiwillig und eigenständig nach Italien ausgereist sind.
Was hat das EU-Abkommen mit Tunesien gebracht?
Die EU-Kommission hat ein Migrationsabkommen mit dem nordafrikanischen Land angekündigt, das eines der Haupttransitländer für Migranten aus Afrika mit Ziel Europa ist. Hintergrund ist, dass die allermeisten Geflüchteten, die derzeit in Lampedusa anlanden, in Tunesien losfahren. Im Gegenzug für millionenschwere Finanzhilfen sollen die tunesischen Sicherheitsbehörden stärker gegen Schlepper und das Ablegen von Booten vorgehen. Die verabredete Einigung ist noch nicht bindend, erst muss noch ein formelles Abkommen geschlossen werden. Bislang ist auch noch kein Geld an Tunesien geflossen.
Das geplante Abkommen wird aus unterschiedlichen Gründen stark kritisiert. Einerseits haben Nichtregierungsorganisationen und EU-Abgeordnete Bedenken, dass die Menschenrechte der Migranten nicht genügend geschützt werden. Andererseits wird Kritik laut, dass das Abkommen bislang nichts gebracht habe, weil die Flüchtlingszahlen weiter hoch seien. Beobachter vermuten eine Art Torschlusseffekt: Geflüchtete und Schlepper bemühen sich möglicherweise in diesen Wochen, so schnell wie möglich nach Europa zu gelangen, bevor die Vereinbarung greift.
Von der Leyen hat Hilfe angekündigt - was ändert sich nun?
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen versprach am Sonntag in Lampedusa Hilfe wegen der hohen Belastung. Sie stellte einen Zehn-Punkte-Plan vor: Zum Beispiel soll mit der Hilfe der EU-Grenzschutzagentur Frontex die Überwachung auf See und aus der Luft verstärkt werden. Außerdem solle die EU-Asylagentur Italien bei der Registrierung neuer Flüchtlinge helfen und die anderen EU-Länder freiwillig Migrantinnen und Migranten aus Italien aufnehmen. Wie und wann das passieren soll, ist aber nicht klar.
Auch wird von der Leyen viele der Vorschläge nicht alleine umsetzen können, sondern braucht die EU-Staaten dazu. Italien hat nun selbst ein Bündel an härteren Maßnahmen beschlossen, unter anderem eine Verschärfung der Abschiebehaft. Das Kabinett unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni entschied in Rom, die Höchstdauer der Abschiebehaft um ein halbes Jahr anzuheben. Zudem wurde das Militär beauftragt, spezielle Abschiebehaftanstalten einzurichten.
Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa