Estland Die Russen von Narva
Rund ein Viertel der Einwohner Estlands sind Russen - für sie ist die Debatte über einen möglichen militärischen Konflikt mit Moskau besonders heikel. Wie blicken sie auf die Spannungen in der Region?
Dort, wo die EU endet und Russland beginnt, stehen sich zwei mächtige Festungen gegenüber: In Narva im Nordosten Estlands die Hermannsfeste, auf der anderen Flussseite die russische Burg Ivangorod. Russische, deutsche und schwedische Herrscher kämpften hier einst um den Zugang zur Ostsee. Noch heute trennt der Fluss Narva die Europäische Union und Russland. Doch für die Menschen hier ist die Grenze fließend.
Jeden Morgen um zehn Uhr kommen Sergej und Wladimir, die ihre Nachnamen lieber nicht nennen, zum Wasser. Sie wollen in der Narva baden - auch im Winter. Wie viele in der Stadt sind auch sie in Russland geboren, haben russische Pässe - aber haben sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion für ein Leben im Westen entschieden.
Die Nachrichten über den NATO-Russland-Konflikt verfolgen sie dennoch im russischen Fernsehen. "Putin sagt, die NATO sei eine Bedrohung. Vielleicht hat er recht", meint Sergej und deutet auf sein Heimatland auf der anderen Seite des Flusses. "Ich sehe ja auch, dass sich die NATO-Grenze immer weiter an Russland annähert. Im ukrainischen, estnischen oder russischen Fernsehen sieht man, dass jeder gerade seine Sichtweise verbreitet."
Der Zusammenbruch der UdSSR - ein Einschnitt
In Narwa leben rund 60.000 Menschen. Als die Sowjetunion zusammenbrach, verloren Tausende ihren Job in einer großen Textilfabrik. Estland trat in die EU und in die NATO ein - aber längst nicht alle in Narva waren begeistert.
Die russische Minderheit in Estland ist in Narva in der großen Mehrheit. Noch heute denken und fühlen sie in der Stadt russisch. Das weiß auch Bürgermeisterin Katri Raik. Am Rande der Stadt legt sie ein paar Blumen an einem Denkmal nieder, das an das Ende des estnischen Unabhängigkeitskrieges mit Russland vor mehr als hundert Jahren erinnert.
Für die studierte Historikerin ein wichtiger Ort - auch vor dem Hintergrund der derzeitigen Spannungen. "Wir müssen jeden Tag arbeiten, damit unsere Russen verstehen, warum die NATO wichtig ist. Wir dürfen keinen Tag verlieren, um zu erklären, dass Frieden nicht selbstverständlich ist."
Regierungschefin setzt auf deutliche Signale
Um den Frieden zu wahren, muss man aber auch Stärke gegen Russland zeigen. Das glaubt die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas. In den vergangenen Tagen hat sie sich in vielen internationalen Medien geäußert. Russlands Präsident Wladimir Putin verstehe nur eines, so die 44-Jährige: nämlich klare Kante.
Estland musste sich seine Unabhängigkeit einst erkämpfen. Deshalb will man nun der Ukraine helfen - auch mit Waffen. "Fünfzig Jahre hatten wir in Estland keine Unabhängigkeit. Viele Familien haben sehr darunter gelitten. Wir haben unsere wirtschaftliche Kraft verloren. Wir haben die Freiheit verloren. Deshalb ist es wichtig, dass dies nicht noch einmal anderen Ländern passiert, die auf ihrem Weg zur Demokratie sind, wie derzeit die Ukraine."
"Krieg braucht niemand"
Waffenlieferungen aus Estland? In der Grenzstadt Narva sind sie da skeptisch. Wie viele in der russischen Gemeinde denken auch Sergej und Wladimir, dass sich das Land besser nicht in die aktuellen Spannungen zwischen der Ukraine und Russland einmischen sollte: "Wir wollen leben. Krieg braucht niemand. Man sollte deshalb lieber zusehen, wie man wieder zusammenarbeiten kann."
Morgen wollen die beiden wiederkommen. Wenn die Grenzer dann nicht aufpassen, wollen Wladimir und Sergej vielleicht weiter raus schwimmen, sagen sie - Richtung Russland.