Baerbock zu Besuch in Kiew Keine schnelle "Taurus"-Entscheidung in Sicht
Kiew muss sich in der Diskussion um die Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern weiter gedulden. Das machte Außenministerin Baerbock bei ihrem Besuch deutlich. Zugleich sicherte sie weitere 20 Millionen Euro für humanitäre Hilfen zu.
Ihr Besuch gilt als Zeichen der Solidarität kurz vor der UN-Vollversammlung: Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ist nach Kiew gereist. Aus Sicherheitsgründen wurde ihr Besuch bis zu ihrer Ankunft geheim gehalten. Neben der Zusicherung einer weiteren Millionen-Hilfe standen auch kontroverse Themen auf der Tagesordnung - wie die ausstehende Entscheidung der Bundesregierung über eine Lieferung von "Taurus"-Marschflugkörpern.
"Uns ist die Situation mehr als bewusst", sagte die Grünen-Politikerin nach einem Gespräch mit ihrem ukrainischen Kollegen, Dmytro Kuleba, in der ukrainischen Hauptstadt. "Zugleich reicht es eben nicht aus, Dinge nur zu versprechen", sagte sie. Vor der Lieferung müssten zunächst "alle Fragen geklärt sein".
Kuleba reagierte mit deutlichen Worten auf das weitere Zögern der Bundesregierung bei der Bitte Kiews nach den weitreichenden Marschflugkörpern, mit deren Hilfe sein Land Ziele hinter den großen russischen Minenfeldern treffen will. "Ihr werdet es sowieso machen", sagte Kuleba. "Ich verstehe nicht, warum wir Zeit verschwenden."
"Kein Argument, das dagegen spricht"
Ukrainische Soldaten und Zivilisten seien aufgrund des Zögerns getötet worden. "Es gibt kein einziges objektives Argument, das dagegen spricht", sagte er. Wenn Berlin Fragen zum Einsatz habe, sei Kiew bereit, diese zu beantworten. "Lasst es uns tun. Je eher es geschieht, um so höher wird unsere Wertschätzung sein", sagte er. Gleichzeitig dankte der ukrainische Außenminister Deutschland für die bereits gelieferten Waffen. Insbesondere hob er die Effektivität der "Gepard"-Flugabwehrpanzer hervor.
Die Ukraine fordert seit Längerem "Taurus"-Marschflugkörper. Bundeskanzler Olaf Scholz äußerte sich bisher stets zurückhaltend. Als Grund für die bislang ausgebliebene deutsche Entscheidung gelten Befürchtungen, dass die modernen Marschflugkörper auch auf Ziele auf russischem Territorium abgefeuert werden könnten.
Weitere 20 Millionen Euro aus Deutschland
Außenministerin Baerbock versicherte bei ihrem Besuch erneut, es könne keine Gewöhnung an die russischen Gräueltaten geben. Deswegen stehe Deutschland der Ukraine bei. "Wir in Europa wissen: Ihr verteidigt hier auch unsere europäische Freiheit." Dafür sei man den Ukrainern "auf ewig dankbar".
Zugleich sicherte die Grünen-Politikerin dem Land weitere 20 Millionen Euro für humanitäre Hilfen zu. Insgesamt unterstützt die Bundesrepublik damit die Ukraine in diesem Jahr mit 380 Millionen Euro. Deutschland werde die Menschen in der Ukraine nicht alleine lassen und ihnen helfen, "so lange Ihr uns braucht", betonte Baerbock.
Baerbock besucht Umspannwerk bei Kiew
Mit Sorge blickt die Ukraine auf den bevorstehenden Winter und mögliche erneute Angriffe auf die Energie-Infrastruktur. "Russlands perfides Ziel ist es wieder, die Menschen in der Ukraine im Winter auszuhungern und erfrieren zu lassen", sagte die deutsche Außenministerin.
Etwa 50 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums Kiews besuchte sie ein Umspannwerk, das nach schweren Drohnenangriffen in der Neujahrsnacht mittlerweile wieder aufgebaut wurde. Mit einer Leistung von rund 2.000 Megawatt ist das Werk für einen großen Teil der Elektrizitätsversorgung der Region zuständig. Um das Werk herum sind mittlerweile hohe Netze errichtet worden, um niedrig fliegende Drohnen abzufangen.
Außenministerin Baerbock besichtigte ein Umspannwerk bei Kiew.
Absichtserklärung für Windpark unterzeichnet
Baerbock hatte bei ihrem Eintreffen erklärt, man wolle das Energienetz mit der Ukraine noch engmaschiger knüpfen. Geht es nach der deutschen Außenministerin, sollte die Ukraine verstärkt Erneuerbare Energien nutzen. So könnte rund um das Atomkraftwerk Tschernobyl in Zukunft ein Windpark entstehen.
Bei einem Treffen im ukrainischen Umweltministerium unterzeichnete Baerbock eine entsprechende Absichtserklärung. Grüner Strom aus Tschernobyl sei auch eine Zukunftsversion für den Frieden, betonte Baerbock.
Nachbesserungen bei der Korruptionsbekämpfung
Auch bei dem anvisierten EU-Beitritt sicherte Baerbock Kiew Unterstützung zu. Gleichzeitig pochte sie auf weitere Reformbemühungen - etwa im Kampf gegen die Korruption. Baerbock sagte, bei der Justizreform und der Mediengesetzgebung könne sich die Bilanz Kiews schon sehen lassen. Aber "bei der Umsetzung des Anti-Oligarchen-Gesetzes und dem Kampf gegen Korruption gilt es noch einen Weg zu gehen." Die EU müsse selbst zudem "zügig daran arbeiten, dass wir für mehr Stühle am Tisch richtig aufgestellt sind".
Die Ukraine hat seit Juni 2022 den Status eines EU-Beitrittskandidaten. Die EU-Kommission definierte damals sieben Reformprioritäten, von denen sie einige teils als erfüllt ansieht. Ein neuer Fortschrittsbericht der Kommission wird im Oktober erwartet.
"Allererster Friedensschritt ist die Rückkehr der Kinder"
Bei Baerbocks Besuch ging es auch um mutmaßlich verschleppte Kinder. Russland raube vielen Tausenden ukrainischen Kindern ihre Zukunft. Sie würden aus Kindereinrichtungen, Waisenhäusern und Schulen verschleppt, "um sie in russische Umerziehungslager zu deportieren oder in Russland zur Adoption freizugegeben".
Deutschland unterstütze Organisationen und Behörden, "die den traumatisierten Kindern wieder ein Zuhause in Sicherheit und Geborgenheit geben", sagte die Ministerin. Diese Verbrechen müssten aufgearbeitet werden. "Der allererste Friedensschritt ist, dass Putin diese Kinder zurück nach Hause lässt", forderte sie. Das Thema soll auch in der UN-Vollversammlungswoche eine wichtige Rolle spielen.
Die Bundesaußenministerin war zuletzt im Januar als erstes deutsches Kabinettsmitglied seit Beginn des Krieges in die nahe der russischen Grenze gelegene Ostukraine gereist und hatte das lange umkämpfte Charkiw besucht. Davor war sie nach Kriegsbeginn im Februar 2022 zwei Mal in Kiew - Mitte Mai 2022 als erstes Mitglied des Bundeskabinetts und Mitte September vergangenen Jahres.
Mit Informationen von Rebecca Barth, ARD-Studio Kiew