Armenien sucht neue Partner Russlands Nachbarn wenden sich ab
Armenien sieht sich von seiner Schutzmacht Russland verraten und findet neue Partner in der EU und den USA. Wenn es auch dauern wird, unabhängig von Russland zu werden, so fordert Armenien zumindest eins: Respekt.
Zum Abschied hallte die russische Nationalhymne durch das Gebäude des Flughafens von Jerewan, gefolgt von der armenischen Hymne. Nach einer protokollarischen Übergabe an ihre armenischen Kollegen marschierten Dutzende russische Grenzschützer mit der weiß-blau-roten Nationalflagge voran aus dem Flughafen hinaus.
Diese Zeremonie beendete nach fast 32 Jahren die Präsenz der russischen Grenzschützer am einzigen internationalen Flughafen Armeniens. Vertraglich vereinbart stellt Russland neben etwa 4.500 Grenzschützern auch Soldaten in etwa der gleichen Zahl zum Schutz Armeniens.
Im Abzug vom Flughafen sieht die armenische Regierung einen ersten Schritt der Loslösung. Durchgesetzt hatte ihn Premier Nikol Paschinjan im Mai bei einem Treffen mit Präsident Wladimir Putin. Russland hielt sich auch an eine zweite Absprache: Deren Grenzschützer zogen ebenfalls von der Grenze Armeniens zu Aserbaidschan ab. Dort hatten sie 2020 eine Reihe von Posten errichtet.
Im Stich gelassen
In dieser Grenzregion ist inzwischen auch ein Helikopter-Flugplatz geräumt worden. Er diente Russland zur Versorgung seiner "Friedenstruppen". Deren Aufgabe war der Schutz der mehr als 100.000 Armenier in Bergkarabach, der von Aserbaidschan abtrünnigen Konfliktregion. Doch flohen die Armenier im September 2023 vor einem "Antiterroreinsatz" der aserbaidschanischen Streitkräfte, der zur Einnahme des Gebietes führte.
Berichte Geflohener lassen darauf schließen, dass die russischen Soldaten die Entwaffnung und Evakuierung der Armenier unterstützten - und sich damit ihrer Schutzaufgabe ein Stück weit selbst entledigten. Deshalb führen viele Armenier den Verlust Bergkarabachs nicht allein auf das Versagen der eigenen Streitkräfte zurück. Sie fühlen sich von Russland verraten, das im Gegner Aserbaidschan den wichtigeren wirtschaftlichen und strategischen Partner sieht.
EU-Beobachter in Armenien
Dabei geht es nicht nur um Bergkarabach - das innerhalb der international anerkannten Grenzen Aserbaidschans liegt. Es geht darüber hinaus um das Territorium Armeniens selbst: Aserbaidschanische Truppen drangen 2021 und 2022 mehrfach ein. Sie halten bis heute strategisch wichtige Höhen auf armenischer Seite der gemeinsamen Grenze besetzt. Diese Verletzung der territorialen Integrität Armeniens verpflichtet die Schutzmacht Russland und das von ihr angeführte Verteidigungsbündnis OVKS dazu, aufseiten Armeniens aktiv zu werden. Doch nichts dergleichen geschah.
Armenien beklagte sich, dass die OVKS nicht einmal eine Resolution gegen Aserbaidschan verabschiedet habe. Erst als die armenische Regierung im Herbst 2022 bei der EU anfragte, bot die OVKS ihrerseits eine Erkundungsmission an. Doch Armenien entschied sich für eine Beobachtermission der EU. Seit die unbewaffneten EU-Beobachter an den Grenzen zu Aserbaidschan patrouillieren, gab es keine militärischen Auseinandersetzungen vergleichbar mit jenen von 2021 und 2022 mehr.
Militärübungen mit US-Amerikanern
Die Mitgliedschaft in der OVKS fror Armenien derweil ein. Es zahlt keine Mitgliedsbeiträge mehr, nimmt nicht an den Bündnistreffen und Militärübungen teil.
Stattdessen sucht sich Armenien neue Partner. Es kauft Militärgüter von Frankreich, Indien und Tschechien. Bereits zum zweiten Mal fand im Juli mit US-Militärs die Übung "Eagle Partner" statt. Als Ziele nannte das US-Kommando für Europa und Afrika unter anderem, für gemeinsame Friedenseinsätze zu trainieren und sich mit der Ausrüstung der jeweils anderen Seite vertraut zu machen.
Von der EU erhält Armenien zehn Millionen Euro für seine Streitkräfte - neben einem Resilienz- und Wachstumspaket in Höhe von 270 Millionen Euro. Verhandelt werden nun die Visaliberalisierung für den Schengen-Raum und weitere Schritte der Annäherung. Kurzzeitig erwog die Regierung in Jerewan schon ein Referendum über die Aufnahme in die Union.
Wirtschaftliche Verflechtung
Russland, das politisch und militärisch in der Ukraine gebunden ist, reagiert auf all dies mit Bedauern, Warnungen und Drohungen. Es nutzte bislang aber keines der Instrumente, die in Armenien gefürchtet werden. Ein bedeutender Hebel ist der Preis, den Russland für die exklusive Lieferung von Gas verlangt. Daneben ist Russland der wichtigste Absatzmarkt für armenische Produkte und - trotz Auswanderungswelle infolge des Ukraine-Krieges - weiter ein bedeutender Arbeitsmarkt für Armenier. Von den Überweisungen sind noch immer viele Familien in der Heimat abhängig.
Die enge wirtschaftliche Verflechtung zeigt sich auch in der Mitgliedschaft Armeniens in der Eurasischen Wirtschaftsunion. Eine Herauslösung aus dem durch eine Zollunion verbundenen Binnenmarkt der fünf Mitgliedsstaaten - neben Russland und Armenien sind es Belarus, Kasachstan und Kirgisistan - wäre langwierig und wirtschaftlich nachteilig für Armenien.
Ein Verlassen der Eurasischen Wirtschaftsunion wird denn auch nicht diskutiert. Angekündigt hat Premier Paschinjan hingegen den Austritt aus dem Militärbündnis OVKS. Allerdings nannte er kein Datum - wie überhaupt bei genauerem Hinsehen noch viel Rhetorik und wenige konsequente Schritte zu erkennen sind.
Im Zweifel allein
Armenien und die anderen Staaten der Region versuchen sich in alle Richtungen abzusichern und schauen genau hin: Gewinnt Russland den Krieg gegen die Ukraine? Welche ihrer Versprechen halten die EU-Staaten ein? Wie wird über die EU-Erweiterung diskutiert? Wer gewinnt die Wahl in den USA? Wie entwickelt sich die Lage im Nahen Osten und in Asien?
Was beispielsweise Sargis Khandanyan, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Parlament, kürzlich im Gespräch mit deutschen Journalisten beschrieb, ist die Erkenntnis: Armenien kann sich im Zweifel auf niemanden verlassen. Als Konsequenz müsse es eigene wirtschaftliche und militärische Stärke entwickeln - dies mit einer Reihe von Partnern.
Armenien fordert Respekt
Klar ist, dass sich Armenien nur langfristig von Russland lösen und hier und da Schwächen Russlands ausnutzen kann. Insofern zielten Maßnahmen wie die Übungen mit dem US-Militär zunächst einmal darauf ab, Russland mehr Respekt abzuringen - sagt der Sicherheitsexperte Richard Giragosian, Direktor des Zentrums für Regionale Studien in Jerewan.
So mussten die russischen Grenzschützer während ihrer letzten Stunden am Flughafen von Jerewan mit ansehen, wie US-Soldaten abgefertigt wurden, die in den Tagen zuvor mit den armenischen Streitkräften trainiert hatten.
Teile dieses Artikels basieren auf einer von der Friedrich-Ebert-Stiftung organisierten Recherchereise durch Armenien, die Reisekosten trägt der NDR.