Armenien und Aserbaidschan Der lange Schatten aus Nahost
Einen Monat nach Einnahme Bergkarabachs durch aserbaidschanische Truppen fürchten viele Armenier, die Eskalation in Nahost könnte auch den Südkaukasus erfassen: Mehrere Regionalmächte haben dort Interessen - und Ziele.
Es ist kaum vier Wochen her, dass sich auf dem zentralen Platz der Hauptstadt von Bergkarabach Tausende in Panik versammelten, um nach Armenien zu fliehen. Zuletzt half das Internationale Rote Kreuz noch Alten und Kranken beim Verlassen der Region. Es sollen kaum zehn Armenier geblieben sein, nachdem aserbaidschananische Truppen in den Teil ihres Landes vorgerückt waren, der mehr als 30 Jahre unter Kontrolle der Armenier gestanden hatte, die über Jahrhunderte dort zu Hause waren.
An diesem Wochenende nun feierte sich Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew als derjenige, der das historische Ziel der Rückeroberung erreicht hat. Nicht nur hisste er in Militäruniform die aserbaidschanische Flagge und küsste sie auf Knien. Er ließ es sich auch nicht nehmen, im Präsidentenpalast die Flagge der Armenier Bergkarabachs mit Füßen zu treten.
Zu sehen war er jedoch allein, kein Jubel umgab ihn. Tatsächlich habe die Einnahme Bergkarabachs keine Begeisterungsstürme in Aserbaidschan ausgelöst, bestätigt der Journalist Javid Agha aus Baku. Mit den jetzt eingenommenen Gebieten verbinde die Aserbaidschaner weniger als Orte wie die kulturell bedeutende Stadt Schuscha. Diese war bereits im Krieg 2020 eingenommen worden, der Tausende Soldaten das Leben gekostet hatte. Beim "Antiterroreinsatz" genannten Einmarsch am 19. und 20. September wurden offiziellen Angaben zufolge noch einmal mehr als 200 aserbaidschanische Soldaten getötet.
Zwischen Schock und Entschlossenheit
Armenien vermeldete nun eine ebenso hohe Zahl an gefallenen Kämpfern und mehr als getötete 20 Zivilisten. Die mehr als 100.000 Geflüchteten versorgt die Regierung in Jerewan mit finanziellen Hilfen. Nun steht die langfristige Integration an - mit der Herausforderung, Spannungen mit der angestammten Bevölkerung zu vermeiden.
In Armenien herrschte in den vergangenen Wochen eine Stimmung aus Wut und Schock, Entschlossenheit und der Befürchtung, dass Alijew noch nicht genug haben könnte. Bestätigt sahen sich viele Armenier von einem Bericht des Magazins "Politico" am 13. Oktober. Demnach hatte sich US-Außenminister Antony Blinken gegenüber einer kleinen Gruppe Abgeordneter in Washington zu Armenien geäußert: Sein Ministerium behalte die Möglichkeit eines baldigen aserbaidschanischen Einmarschs im Auge. Auf Nachfrage eines armenischen Mediums allerdings wollte das US-Außenministerium die Darstellung so nicht bestätigen. Zudem soll Blinken am 3. Oktober mit den Abgeordneten gesprochen haben - vier Tage vor dem terroristischen Überfall der Hamas auf Israel.
Folgen der Entwicklungen in Nahost
Diese Ereignisse in Nahost wirken sich auch auf Armenien und Aserbaidschan aus, da wichtige Regionalmächte und nicht zuletzt Israel im Südkaukasus Ziele verfolgen. Auffällig ist zum Beispiel, dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am 6. Oktober bei einem Treffen mit Alijew eine zumindest leichte Entspannung herbeiführte. Er sprach nicht vom lange geplanten "Sangesur-Korridor", der Aserbaidschan mit der Exklave Nachitschewan über armenisches Territorium hinweg verbinden soll. Die Forderung Alijews nach Einrichtung dieses "Sangesur-Korridors" steht hinter den Befürchtungen vor einem Einmarsch Aserbaidschans. Erdogan kündigte stattdessen eine Verkehrsverbindung an Armenien vorbei an, und zwar über das Territorium des südlichen Nachbarn Iran.
Das ist insofern bemerkenswert, als es zwar schon 2022 eine Vereinbarung dazu gab. Die Türkei und der Iran sind aber ansonsten Rivalen, auch in diesem Konflikt: Ein Einmarsch Aserbaidschans in Armenien hätte zur Folge, dass die Türkei als traditionelle Verbündete Aserbaidschans und der Iran auf der Seite Armeniens in die Konfrontation hineingeraten würden. Iran hatte mehrfach gedroht: Man werde es nicht hinnehmen, wenn Aserbaidschan durch eine Invasion den Iran von Armenien abschneide.
Auffällig ist, dass Aserbaidschans Präsident Alijew nach dem Treffen mit Erdogan den "Sangesur-Korridor" in seinen Drohungen gegen Armenien bislang nicht mehr thematisierte. Dies deutet darauf hin, dass die Türkei und der Iran bereit sind, ihre Differenzen an dieser Stelle beiseite zu lassen und ihre Kapazitäten anderweitig zu konzentrieren.
Allianz zwischen Israel und Aserbaidschan
Andererseits könnte eine weitere Eskalation in Nahost zu einem Flächenbrand führen, der auch den Südkaukasus erfasst - wenn es zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Israel und dem Iran kommt. Israel ist ein weiterer enger Verbündeter und offiziell strategischer Partner Aserbaidschans mit seiner Lage nördlich des Iran.
Israel bezieht seit Jahren mehr als 50 Prozent seiner Öl-Importe aus Aserbaidschan. Umgekehrt trug Israel erheblich zur Modernisierung der aserbaidschanischen Streitkräfte bei. Nach Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) kamen zwischen 2017 und 2020 mehr als 60 Prozent aller Waffenimporte Aserbaidschans aus Israel. Sichtbar wurde dies im Krieg 2020, als die aserbaidschanischen Streitkräfte mit dem kombinierten Einsatz von Drohnen, modernen Raketen und Artillerie Gebiete unter Kontrolle der Armenier einnehmen konnte, die bis dahin als uneinnehmbar galten.
Wie schon vor dem Krieg 2020 gab es vor der endgültigen Einnahme Bergkarabachs durch die aserbaidschanischen Streitkräfte Mitte September eine auffällige Häufung von Transportflügen zwischen militärisch genutzten Flughäfen in Israel und in Aserbaidschan. Beobachter hatten dies als sicheres Zeichen für einen nahenden Militäreinsatz Aserbaidschans verstanden - was sich als korrekt erwies.
Deshalb ruft nicht nur unter armenischen Social-Media-Nutzern der Umstand Unruhe hervor, dass seit Tagen erneut solche Flugbewegungen zwischen Israel und Aserbaidschan zu beobachten sind. Was allerdings aus den Flugdaten nicht hervorgeht: Handelt es sich um Transporte von oder nach Israel? Wird Militärausrüstung womöglich zurück nach Israel transportiert oder weitere nach Aserbaidschan gebracht? Letzteres als Vorbereitung für einen Einsatz gegen Armenien oder gegen Iran?
Spannungen zwischen Aserbaidschan und Iran
Für den Iran ist die enge Kooperation zwischen Israel und Aserbaidschan seit langem Anlass zu Drohungen: Die Führung in Teheran wirft dem nördlichen Nachbarn seit Jahren vor, Israel das Vorfeld für Spionageaktivitäten und womöglich für Militäreinsätze zu bieten.
So gruppieren sich auf der einen Seite Aserbaidschan mit der Türkei und Israel und auf der anderen Seite der Iran mit Armenien. Letzterer ist eingezwängt zwischen feindlichen Nachbarn und mehr denn je auf Verbündete angewiesen. Denn die alte Schutzmacht Russland verfolgt ihre Interessen inzwischen auf Kosten Armeniens.
Im Europa-Parlament erklärte Regierungschef Nikol Paschinjan am Dienstag die Bereitschaft für ein Friedensabkommen mit Aserbaidschan bis Ende des Jahres und bat um Unterstützung und Aufmerksamkeit für Armenien.