Handelsverträge nach Brexit Für Deutschland steht viel auf dem Spiel
Die EU will an ihren Regeln festhalten, London denkt gar nicht daran: Der Verhandlungspoker für den künftigen Handelspakt startete mit Maximalpositionen. Für die deutsche Wirtschaft ist der Streit besonders gefährlich.
Die EU-Botschaft an Boris Johnson ist unmissverständlich: Egal wie ein zukünftiger Vertrag zwischen der EU und dem Drittstaat Großbritannien in Zukunft aussieht, und wie er überschrieben ist: "Er enthält für beide Seiten Rechte und Pflichten", betont EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Einen Freifahrtschein für den Binnenmarkt gibt es nicht.
Und Kommissions-Chefunterhändler Michel Barnier wurde mit seiner Ansage an London noch deutlicher: Nur wenn Premier Boris Johnson die Kontinentaleuropäer weiter in britischen Hoheitsgewässern fischen lässt, ist die EU überhaupt bereit, über einen EU-Marktzugang für britische Waren zu verhandeln. Und das auch nur unter der Bedingung, dass die Briten die EU-Standards einhalten.
Barnier pocht auf EU-Standards
Barnier spielt damit auf die hohen EU-Sozial-, Umwelt- und Klimastandards an. Er hat auch eine klare Botschaft in Sachen Wettbewerbs-und Steuerrecht, wenn die Briten weiterhin an einem freien Zugang zum EU-Binnenmarkt interessiert sind. Dort setzen sie bisher rund fünfzig Prozent ihrer Exporte ab: Um Wettbewerbsvorteile zu erlangen, sind staatliche Subventionen ebenso verboten wie die Verwandlung des Vereinigten Königreichs in eine Steueroase.
Laut Barnier sollen die Briten nicht nur die heutigen, sondern auch die zukünftigen EU-Standards einhalten, wenn sie Zölle und Quoten beim Binnenmarktzugang vermeiden wollen.
Chaos-Brexit mit einjähriger Verzögerung?
Der Kommission ist klar, dass diese EU-Maximalposition nur schwer durchzuhalten ist. Denn dann hätten die Briten gleich in der EU bleiben können. Johnson legt es auf weniger Regulierung an, auf niedrigere Standards und Unternehmenssteuern und auf eine Begrenzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Es ist also denkbar, dass Ende dieses Jahres entweder ein nur sehr begrenzter Handelsvertrag zwischen Brüssel und London zustande kommt oder gar keiner. Damit könnte der Chaos-Brexit mit einjähriger Verzögerung doch noch Wirklichkeit werden.
450.000 Arbeitsplätze hängen vom Export ab
Vor allem der EU-Exportmeister Deutschland hätte im Fall eines harten Brexit viel zu verlieren. Denn Großbritannien ist für die Bundesrepublik ein wichtiger Exportmarkt: Sie exportiert pro Jahr Waren und Dienstleistungen im Wert von über 100 Milliarden Euro in das Vereinigte Königreich.
Die Zahl der Arbeitsplätze, die direkt oder indirekt in der Bundesrepublik von Exporten das Vereinigte Königreich abhängen, werden laut Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung auf über 450.000 Beschäftigte geschätzt. Davon entfallen rund 60.000 auf die Automobilindustrie.
Für die deutschen Autobauer ist Großbritannien der zweitwichtigste Exportmarkt der Welt. Britische Zölle sind neben US-Zöllen das Letzte, was sich die deutsche Autoindustrie wünscht.
NRW würde es besonders hart treffen
Nordrhein-Westfalen ist nicht nur wegen des Autobauers Ford das Bundesland, in dem deutschlandweit die meisten Arbeitsplätze von Exporten nach Großbritannien abhängen - mit deutlichem Abstand vor Bayern und Baden-Württemberg.
Während der Brexit-Verhandlungen in Brüssel wies Mark Speich, Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen (NRW) in Brüssel, darauf hin, dass viele Unternehmen gerade in der Automobilindustrie und in der Chemieindustrie besonders enge Beziehungen zu Firmen in Großbritannien haben, oder mit eigenen Firmen in Großbritannien vertreten sind.
Es ist kein Zufall, dass der britische Botschafter in der Bundesrepublik, Sir Sebastian Wood, seine erste Brexit-Rede in Nordrhein-Westfalen hielt. NRW und der EU-Exportmeister Bundesrepublik haben ein starkes Interesse an einem Handels-Vertrag mit Großbritannien.
Kommt ein reines Handelsabkommen?
Die EU-Kommission in Brüssel strebt zunächst ein reines Handelsabkommen an. Ein sogenanntes "EU-only"-Abkommen, das nicht von allen nationalen und regionalen Parlamenten der EU unterschrieben werden muss, sondern nur vom britischen und europäischen Parlament. Im Gegensatz zum Freihandelsvertrag mit Kanada könnte die belgische Wallonie einen Deal mit Johnson also nicht blockieren.