Staatschefs beraten Wo die EU digital aufholen muss
Ist die EU fit für die digitale Zukunft? Darüber beraten die Staats- und Regierungschefs beim EU-Gipfel in Tallinn. Die Union muss einiges aufholen, sagt Digitalexperte Eckhardt im tagesschau.de-Interview. Er empfiehlt, auf die Industrie 4.0 zu setzen.
tagesschau.de: Estland hat die digitale Zukunft zum Kernthema seiner EU-Ratspräsidentschaft gemacht. Der baltische Staat gilt als Vorreiter bei der Digitalisierung. Was können die Esten auf dem Gebiet, was der Rest der EU noch nicht kann?
Philipp Eckhardt: Die Esten sind beim E-Government ganz vorne, also bei digitalen Behördendiensten. Zum Beispiel können die Esten elektronisch wählen. Insgesamt können viele Behördengänge in Estland online erledigt werden, zum Beispiel kann die Geburt eines Kindes oder der Wohnsitz online angemeldet werden. Außerdem gilt in Estland das Prinzip, dass die Daten der Bürger nur einmal erfasst werden. Wenn beispielsweise die Steuerbehörde mein Geburtsdatum erfasst, wird die Information auch an andere Behörden weitergegeben und muss nicht überall neu abgefragt werden. Das vereinfacht den Alltag stark.
Philipp Eckhardt ist wissenschaftlicher Referent am Centrum für Europäische Politik in Freiburg. Die Denkfabrik untersucht die Politikvorhaben der Europäischen Union.
tagesschau.de: Bei uns sind Behördengänge komplizierter. Deutschland landet bei der digitaler Verwaltung laut EU-Fortschrittsreport auf Platz 20 im Ranking der EU-Mitgliedsstaaten. Warum hinken wir so weit hinterher?
Eckhardt: Das liegt vor allem am Föderalismus. Estland ist ein kleines Land, in dem alles mehr oder weniger zentral gesteuert werden kann. Hier in Deutschland haben die Länder und Kommunen viele Kompetenzen und es findet wenig Koordination statt, beispielsweise gibt es kein deutschlandweites Verwaltungsportal, das Behördendienste bündelt.
EU hinkt international hinterher
tagesschau.de: Im internationalen Vergleich: Wie steht die EU insgesamt im Bereich der Digitalisierung da?
Eckhardt: Wenn man sich beispielsweise die Versorgung mit schnellen Breitbandnetzen anschaut, hinkt die EU weit hinterher. In Japan oder Südkorea gibt es beispielsweise deutlich mehr Glasfaserleitungen als in Deutschland.
Außerdem haben wir in der EU keine großen Internetfirmen. Sieben der 20 größten Firmen weltweit sind vordergründig im Digitalbereich tätig. Dazu gehören beispielsweise Google, Apple und Amazon. Aber keines dieser sieben Unternehmen kommt aus der EU, alle großen Player im Internetbereich sitzen in den USA oder auch in China.
tagesschau.de: Hat die EU dann überhaupt noch Chancen auf dem digitalen Markt?
Eckhardt: In manchen Bereichen ist der Zug schon abgefahren. Etwa auf dem Markt der Sozialen Netzwerke oder im Online-Warenhandel, den Amazon stark kontrolliert. Potenziale sehe ich aber noch bei der Digitalisierung von Unternehmen, insbesondere bei Diensten im Bereich der Industrie 4.0, also bei der Vernetzung von Maschinen.
Auf dem Weg zum "digitalen Binnenmarkt"?
tagesschau.de: Was tut die EU, um bei der Digitalisierung besser zu werden?
Eckhardt: Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, einen "digitalen Binnenmarkt" zu schaffen. Darunter versteht die EU, dass sie eine Vielzahl von Fragen im digitalen Bereich angehen will. Zum Beispiel geht es da um den Breitbandausbau und Investitionen in schnellere Mobilfunknetze. Es geht aber auch etwa um den Umgang mit Hassrede und Falschmeldungen im Netz und um das Thema Cyberkriminalität. Über 50 Prozent der Unternehmen in der EU waren schon einmal von einem Cyberangriff betroffen.
tagesschau.de: Was macht die EU denn gegen Cyberkriminalität?
Eckhardt: Sie will die Europäische Agentur für Netz- und Informationssicherheit (ENISA) ausbauen. Außerdem sollen IT-Produkte künftig zertifiziert werden, bevor sie auf den Markt kommen. Damit soll es eine Art Qualitätslabel entstehen, damit sich der Kunde sicher sein kann, dass das Produkt, das er erwirbt, einen gewissen Sicherheitsstandard erfüllt.
tagesschau.de: Reichen die Maßnahmen der EU insgesamt aus, um bei der Digitalisierung voranzukommen?
Eckhardt: Die EU hat sicherlich gute Ansätze. Zum Beispiel will sie Internetfirmen nicht nur dort besteuern, wo sie ihre Sitze haben, sondern auch dort wo sie ihren Umsatz machen. Ob sich das dann aber immer umsetzen lässt, ist allerdings fraglich. Dafür bräuchte es einstimmige Beschlüsse in der EU, und so manche Mitgliedsstaaten profitieren auch von den aktuellen Regelungen. So hat beispielsweise Irland, auch wenn das Land die Digitalfirmen, wie Facebook und Apple mit geringen Steuersätzen zu sich lockt, doch letztlich hohe Steuereinnahmen durch deren Ansiedlung. Darauf wird das Land ungern verzichten wollen.
Das Interview führte Jonas Schreijäg, tagesschau.de