EU-Ratspräsidentschaft Tallinn, übernehmen Sie!
Malta übergibt den Ratspräsidentschaftsstab an Estland - damit hat der baltische Staat für ein halbes Jahr in der Europäischen Union den Hut auf. Vor allem ein Thema steht dabei auf der Agenda des kleinen Landes ganz weit oben.
"Eigentlich sollte ich das gar nicht erzählen, aber ich sage es einfach mal: Ich habe noch immer kein Smartphone", verriet EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zum Start der estnischen Ratspräsidentschaft in Tallinn. Deshalb könne er niemals Ministerpräsident von Estland werden, scherzte der 62-Jährige Luxemburger.
Juncker telefoniere noch immer mit einem alten, nicht internetfähigen Handy, heißt es aus seinem Umfeld. Und weil das so ist, habe ihn Jüri Ratas, der technikaffine Ministerpräsident von Estland, wie im 19. Jahrhundert mit einer Postkarte zum Besuch nach Tallinn eingeladen. "Auch wenn ich kein Technikfreak bin, weiß ich, dass unsere Zukunft digital ist. Das Digitale ist die DNA von Estland und es muss auch Teil der europäischen DNA werden", sagte Juncker.
Klein, aber digital ganz groß
In dem kleinen baltischen Land an der Ostsee, zwischen Lettland und Russland gelegen, leben gerade einmal 1,3 Millionen Menschen. Das sind etwas weniger als in München. Das kleine Estland ist jedoch ganz groß in der digitalen Wirtschaft. Bereits 2005 war es das erste Land der Welt, in dem Bürger online wählen konnten. Hier können nahezu alle Behördengänge im Internet erledigt werden. "Das digitale Europa und der freie Datenverkehr werden unsere Schwerpunkte", sagte Ministerpräsident Ratas.
In Zukunft soll es in ganz Europa superschnelles Internet geben. Bis 2020 soll mindestens eine Großstadt jedes EU-Landes den 5G-Standard haben. In Tallinn wird es schon nächstes Jahr soweit sein. Der Erfolg des digitalen Binnenmarktes wird aber auch davon abhängen, wieviel Vertrauen die Europäer darin haben. Deshalb hoffe er, dass man von Estland im Bereich Cyber-Sicherheit etwas lernen könne, so Juncker. Im vergangenen Jahr habe es rund 4000 Cyber-Angriffe pro Tag gegeben - ein Anstieg von 300 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Ratas hat viel vor
Neben dem digitalen Schwerpunkt soll es in den kommenden sechs Monaten auch um mehr Zusammenarbeit bei der Sicherheit und Verteidigung gehen, sowie um die Energieunion und den Kampf gegen den Klimawandel, erläuterte Ratas. Ebenfalls auf der Liste steht die umstrittene Reform des europäischen Asylsystems und die festgefahrene Umverteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU.
Für sein Land sei es die absolut erste Ratspräsidentschaft, betont der Ministerpräsident. Estland ist erst seit 2004 Mitglied der Europäischen Union und sollte eigentlich erst Anfang nächsten Jahres die Ratspräsidentschaft übernehmen. Doch da Großbritannien, das eigentlich dran war, wegen der Brexit-Entscheidung abgesagt hatte, rückte das kleine baltische Land einen Platz nach vorn. Und der Ministerpräsident versichert: Estland ist bereit für die Ratspräsidentschaft.