Großbritannien und die EU-Wahl "Für die Tories eine Horrorvorstellung"
Die EU und Großbritannien haben vorerst einen harten Brexit abgewendet. Für die britischen Konservativen könnte eine Europawahl zur Gefahr werden, sagt ARD-Korrespondent Marquardt. Vor allem die rechtspopulistischen Parteien erhofften sich davon eine Renaissance.
NDR Info: Wie ernst nehmen die Briten diesen Austrittstermin 31. Oktober?
Jens-Peter Marquardt: Sie müssen den Termin zumindest deswegen schon ernst nehmen, weil jetzt die Teilnahme an den Wahlen zum EU-Parlament zur ernsten Gefahr wird. Das ist für die etablierten Parteien, vor allem für die Konservativen, eine Horrorvorstellung. Denn sie drohen dort unterzugehen. Deshalb kommt jetzt der 22. Mai ins Spiel. Wenn sich Regierung und Opposition doch noch darauf einigen, das Abkommen durchs Unterhaus zu bringen, dann würde den Briten die Teilnahme an den EU-Parlamentswahlen erspart bleiben und sie könnten zum 1. Juni austreten. Sehr wahrscheinlich ist das aber nicht. Denn sowohl die Konservativen als auch Labour sind immer noch zerstritten.
NDR Info: Werden die Gegner und Befürworter des Brexits diese Europawahl nutzen, um daraus eine Art zweites Referendum zu machen?
Marquardt: Das könnte sein. Vor allen Dingen wollen die rechtspopulistischen Parteien - wie beispielsweise UKIP -, die fast schon in der Versenkung verschwunden war, eine Renaissance erleben. Dann gibt es auch noch die Neugründung von Nigel Farage - die Brexit-Partei. Auch die könnte bei der Wahl stark abschneiden.
Auf der anderen Seite wäre das eine Möglichkeit für EU-Befürworter, um zu zeigen: "Ja, wir sind engagiert. Wir wollen, dass das Land in der EU bleibt." Die Menschen könnten dann Parteien wählen, die sich für den Verbleib in der EU einsetzen - zum Beispiel die Liberaldemokraten. Wenn sich die Labour-Partei bis dahin sortiert hat, könnte das auch ein Vorteil für sie sein.
NDR Info: Premierministerin May verhandelt gerade noch mit Labour über einen Ausweg aus dieser Brexit-Sackgasse. Wie nah oder wie weit entfernt ist eine Lösung?
Marquardt: Eine Lösung ist noch relativ weit entfernt. Eine ganz wichtige Frage ist, ob man das Ganze mit einem zweiten Referendum verbindet. Dieser 31. Oktober gibt jetzt immerhin technisch-organisatorisch Zeit, um solch ein zweites Referendum abhalten zu können. Weite Teile der Labour-Partei wollen das - die Konservativen wollen das nicht. Da liegt man noch weit auseinander. Aber es ist eigentlich für beide Parteien verführerisch, sich doch noch schnell zu einigen, um die EU-Wahlen hier in Großbritannien zu vermeiden.
NDR Info: May hat in Brüssel trotzdem zugesichert, dass London die Rechte und Pflichten der EU akzeptieren werde. Wie haltbar sind solche Zusagen von einer Regierungschefin, die kurz vor dem Rücktritt steht?
Marquardt: Der Rücktritt ist nicht vom Tisch. Sie wird sich auch in Zukunft in Brüssel zivilisiert verhalten. Aber der Druck in ihrer Partei ist immens groß. In den Zeitungen steht viel über die, die unbedingt vermeiden wollen, dass May noch die nächsten Monate im Amt bleibt. Sie wollen, dass ein Brexit-Hardliner ins Amt einzieht. Der könnte es dann der EU schwer machen, indem er alles niederstimmt, was die EU in Zukunft machen möchte: vom Haushalt bis hin zu einer Reform der EU oder auch dem Vorschlag eines neuen EU-Kommissionspräsidenten.
Das Gespräch führte Liane Koßmann, NDR Info