Britisches Unterhaus Die "Woche der Hölle" in Sachen Brexit
Zehn Tage vor dem Brexit-Termin ist in Großbritannien mal wieder alles offen: Die Parlamentarier könnten noch heute über den Deal abstimmen. Änderungen will Johnson jedoch keinesfalls zulassen. Und was macht die EU?
Die britischen Abgeordneten stimmen möglicherweise noch heute über den zwischen Premierminister Boris Johnson und der EU ausgehandelten Brexit-Deal ab. Britische Medien sprechen von einem "Showdown" zwischen Johnson und Parlamentssprecher John Bercow, dem Kritiker eine zu starke EU-Nähe vorwerfen. Sie gehen daher nicht davon aus, dass der Parlamentspräsident die Abstimmung zulässt. Es wäre die zweite Abstimmung binnen drei Tagen.
Alles oder nichts
Bercow will seine Entscheidung am Nachmittag verkünden. Gibt er den Weg frei, könnten die Abgeordneten direkt abstimmen. Notfalls werde man ungeachtet eines Verbots abstimmen, kündigte die Regierung an. Auch mit Änderungsanträgen von Parlamentariern wird gerechnet. Regierungskreise sprachen von der "Woche der Hölle" im Parlament. Der "Telegraph" zitierte eine nicht näher genannte Regierungsquelle mit den Worten: "Alles steht auf Messers Schneide. Alles spielt sich in dieser Woche ab."
Johnson steht unter sehr großem Zeitdruck. Er hat versprochen, Großbritannien am 31. Oktober - also in etwa eineinhalb Wochen - aus der Europäischen Union zu führen. Außenminister Dominic Raab und andere Kabinettsmitglieder sehen Chancen für den Deal. Es scheine ausreichend Unterstützung im Unterhaus vorhanden zu sein, so Raab.
Ob es heute tatsächlich zu einer Abstimmung im britischen Parlament kommt, ist noch offen: Eigentlich ist eine zweite Debatte über eine unveränderte Vorlage innerhalb eines Parlamentsjahres nicht möglich. Mit Verweis auf diese Regelung aus dem 17. Jahrhundert hatte Parlamentssprecher John Bercow schon einmal eine Wiedervorlage des Deals von Theresa May verhindert. Es gilt als wahrscheinlich, dass er auch diesmal wieder so verfährt. Bercow will seine Entscheidung am Nachmittag bekannt geben.
Eine Einschätzung von Thomas Spickhofen, ARD-Studio London
Johnson benötigt die Stimmen von mehr als der Hälfte der aktiven Abgeordneten - nach Abzug nicht wahrgenommener Mandate und an der Auswertung beteiligter Parlamentarier sind das 635. Mit 318 Stimmen hätte Johnson also eine sichere Mehrheit. Doch seine Fraktion hat nur 288 Sitze. Er muss also auf Stimmen aus der Opposition hoffen.
Johnson will Änderungen verhindern
Das Unterhaus soll auch über das Gesetz zur Ratifizierung des Brexit-Deals beraten. Dazu können Änderungsanträge eingebracht werden, die das Abkommen im Kern verändern würden. So wollen Abgeordnete der Labour-Partei und weitere Parlamentarier beschließen lassen, dass Johnsons Deal dem Volk in einem weiteren Referendum zur Zustimmung vorgelegt werden muss. Unter diesen Umständen könnte sich zumindest ein Teil der Labour-Abgeordneten eine Zustimmung vorstellen.
Änderungen möchte Premier Johnson jedoch unbedingt verhindern: Sollten die Abgeordneten versuchen, die mit der EU ausgehandelte Vereinbarung mit Zusätzen zu versehen, wäre eine Abstimmung sinnlos, sagte ein Sprecher Johnsons. Die Regierung würde in einem solchen Fall den Abstimmungsantrag zurückziehen.
Ein anderer erwarteter Änderungsantrag sieht vor, dass ganz Großbritannien mit dem Rest der EU zumindest für eine Übergangszeit in einer Zollunion bleiben soll. Dies würde vor allem bei Brexit-Hardlinern auf Widerstand treffen, da Großbritannien dann nicht ohne weiteres Handelsabkommen mit den USA oder anderen Ländern abschließen könnte - für Befürworter ein Hauptvorteil des Brexits.
Das Parlament hatte am Samstag eine Entscheidung über das Abkommen verschoben und Johnson damit eine Niederlage zugefügt. Ziel der Vertagung war es, einen No Deal auszuschließen. Die Folge: Johnson war per Gesetz verpflichtet, in Brüssel eine Verlängerung der Brexit-Frist über den 31. Oktober hinaus zu beantragen - dies tat er widerwillig und ohne Unterschrift auf dem offiziellen Schreiben.
Für die EU spielt das aber keine Rolle: Sie sieht den Antrag auch ohne Unterschrift als gültig an, wie eine EU-Kommissionssprecherin sagte. Johnsons Verhalten könnte bei einer Anhörung vor einem Gericht in Schottland eine Rolle spielen. Kritiker werfen Johnson vor, den Willen des Parlaments zu torpedieren. Ein Chaos-Brexit Ende Oktober mit all seinen wirtschaftlichen Turbulenzen wird unwahrscheinlicher.
Raab sicherte weitere Gespräche mit der DUP zu.
EU erwägt offenbar Aufschub
Auch die EU hat kein Interesse an einem ungeordneten Brexit. Die Spitze des EU-Parlament will am Abend beraten, ob die Ratifizierung des Brexit-Vertrags auf EU-Seite noch in dieser Woche abgeschlossen werden könnte. Offenbar ist die EU inzwischen auch bereit, über einen erneuten Aufschub des aktuellen Brexit-Termins am 31.10. nachzudenken, um Chaos zu verhindern.
Johnson hatte vor wenigen Tagen mit der EU einen geänderten Austrittsvertrag ausgehandelt. Neu geklärt wurde die Frage, wie die Grenze zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland auch nach dem Brexit offen bleiben kann. Zudem vereinbarte Johnson mit Brüssel in einer politischen Erklärung, dass es auf längere Sicht nur eine lose Bindung seines Landes an die EU geben soll.