Interview zum Brexit "Johnson setzt jetzt auf Labour"
Premier Johnson könne die nordirische DUP nicht mehr von seinem Deal überzeugen, sagt Politikexperte Christos Katsioulis im Interview mit NDR Info. Er werde nun um die Zustimmung von Labour-Abgeordneten werben. Ein zweites Referendum würde für Klarheit sorgen, wie es weitergeht mit den Briten.
NDR Info: Wie bewerten Sie die Signale aus Brüssel?
Christos Katsioulis: Wir haben alle nicht mehr damit gerechnet, dass wir noch weißen Rauch sehen werden vor dem Beginn des EU-Gipfels. Aber trotz der ganzen Euphorie muss man noch zur Vorsicht mahnen. Es wurde auch Anfang des Jahres schon mal ein Deal ausgehandelt zwischen Brüssel und London. Der ist dann im britischen Unterhaus gescheitert. Und auch dieses Mal ist nicht direkt davon auszugehen, dass das mit fliegenden Fahnen durchgewunken wird.
NDR Info: Boris Johnson braucht die Zustimmung der nordirischen DUP, und die hat bereits gesagt, sie will nicht mitziehen. Was ist am Sonnabend zu erwarten, wenn das britische Parlament wieder gefragt ist und Johnson tatsächlich ein unterschriebenes Papier mitbringen sollte aus Brüssel?
Katsioulis: Zu erwarten ist wie immer eine sehr lebendige Debatte. Und ein heftiges Werben um Labour-Abgeordnete, die signalisiert haben, dass sie einen Deal zustimmen könnten. Möglicherweise wird es noch eine Erweiterung des Gesetzes geben in dem Sinne, dass die Opposition versuchen wird, Johnsons Deal von einem weiteren Referendum abhängig zu machen. Das heißt, es könnte sein, dass die Sitzung so ausgeht, dass das Parlament dem Deal zustimmt unter der Bedingung, dass ein zweites Referendum darüber stattfindet.
NDR Info: Was könnte Johnson der DUP denn noch bieten, damit sie möglicherweise ihre Meinung ändert?
Katsioulis: Mein Eindruck ist, dass er der DUP im Moment nichts mehr bieten kann, um ihre Meinung zu ändern. Man hat es offenbar versucht mit weiteren Finanzspritzen für die Region. Auch das hat die DUP nicht überzeugt, weil sie die Möglichkeit ihres Vetos bei der Frage, ob der spezielle Status Nordirlands erhalten wird oder nicht, verloren hat.
Ich gehe davon aus, dass Johnson stattdessen viel stärker auf Labour-Abgeordnete abzielt, auch indem er in dem Abkommen mit der EU einem sogenannten Level Playing Field zugestimmt hat - das heißt, dass sich Großbritannien und die EU in Zukunft weiterhin an die gleichen Standards bei Umweltschutz, Verbraucherschutz und Sozialrecht halten und sich auf ähnliche Rahmenbedingungen für Steuern und Wettbewerb oder Staatsbeihilfen einigen. Das heißt, Johnson nimmt der EU und auch den Labour-Abgeordneten die Sorge, dass Großbritannien sich hier weiter dereguliert und ein Wettbewerber vor der Küste Europas wird. Damit kann er es vielleicht schaffen, die zehn Abgeordneten von der DUP, die ihm wegbrechen, mit Abgeordneten von Labour zu ersetzen.
NDR Info: Was er wohl nicht schaffen kann, ist, den 31. Oktober tatsächlich als Austrittsdatum zu halten. Sehen Sie das anders?
Katsioulis: Ich vermute, dass wir sehr, sehr klar auf eine sogenannte technische Verlängerung zusteuern, wenn dieser Deal durchs Parlament geht - einfach, um Rechtssicherheit gewährleisten zu können, um die ganzen 64 Seiten, die heute ausgehandelt wurden, auch in Gesetze überführen zu können. Das wäre für Johnson vermutlich kein Problem: Er könnte das trotzdem als Brexit bezeichnen, der jetzt nur noch implementiert wird. Die andere Möglichkeit, die ich bereits ansprach, ist das Referendum, das an den Deal angehängt werden könnte. Das würde bedeuten, dass wir in eine politische Verlängerung gehen, die dann mindestens sechs Monate dauern müsste.
NDR Info: Müsste dem nicht eigentlich die EU zustimmen?
Katsioulis: Selbstverständlich. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU, die ja immer wieder auch ihre demokratischen Rechte und Werte hochhält, einem solchen Ansinnen Großbritanniens entgegenstehen würde. Wenn also die Briten sagen würden, wir würden diesen Deal gerne in einem Referendum nochmal zur Abstimmung stellen und bitten euch deswegen darum, die Verlängerung nicht nur für drei oder zwei Monate zu gewähren, sondern darüber hinaus vielleicht für sechs oder sieben Monate.
NDR Info: Nach all dem Gezerre - wenn Sie eine politische Verlängerung von vielleicht sechs Monaten für möglich halten: Hieße das, dass am Ende alles wieder von vorne losgehen könnte und der Brexit als Ganzes wieder infrage gestellt werden könnte?
Katsioulis: Beim Brexit muss man eigentlich immer mit allem rechnen. Und Prognosen sind höchst gefährlich. Sollte es eine politische Verlängerung geben, verbunden mit einem Referendum, dann wäre das zumindest mit der Perspektive von Klarheit verbunden. Das wäre aus meiner Sicht nur dann möglich, wenn das Parlament dem Deal zustimmt, plus das Referendum dransetzt. Dann hätte man ein relativ klares Datum, auf das man zusteuert, und wüsste, ob Großbritannien mit diesen Bedingungen austritt oder auch künftig in der EU bleibt.
Das Gespräch führte Ulrike Heckmann. Für die schriftliche Fassung wurde das Interview leicht gekürzt und überarbeitet.