Brexit spaltet Gesellschaft Großbritannien im Glaubenskrieg
Der Brexit spaltet nicht nur die Politik, sondern auch die britische Gesellschaft. Immer erbitterter wird der Streit geführt, immer tiefer werden die Gräben zwischen Gegnern und Befürwortern.
Mehr als drei Jahre ist es her, dass der Brexit in Großbritannien einschlug. Und immer noch entzweien sich wegen des Austritts aus der EU Kollegen, Freunde und Verwandte. Jetzt traf es sogar Premierminister Boris Johnson, als dessen Bruder sich aus der Regierung verabschiedete: Der EU-freundliche konservative Abgeordnete und Staatssekretär Jo Johnson wollte die konfrontative Brexit-Politik seines Bruders nicht länger mittragen.
Mit Johnson ist jetzt auch in Großbritannien ein Populist an der Regierung, der demonstrativ mit den politischen Gepflogenheiten bricht. Regeln, die auf der britischen Insel als "good chap theory" bekannt sind, und vor dem Missbrauch von Gewohnheitsrecht und ungeschriebenen Konventionen schützen sollen.
Den Ausdruck habe einst ein Kabinettssekretär geprägt, erläutert der Verfassungshistoriker Peter Hennessy. Mit der "good chap theory" ist gemeint, dass Leute an der Spitze von Regierung und Verfassung ihre Grenzen kennen, dass sie denen nie zu nahe kommen, sie schon gar nicht brechen. Doch genau das hat Boris Johnson getan.
Aus den Tories wird eine "Brexit-Sekte"
Dessen offene Missachtung der Konventionen und sein opportunistischer Umgang mit Fakten zeigten sich, als Johnson dem Parlament eine Zwangspause verpasste, um ein Verbot des harten Brexit zu verhindern. Und als er, als ihm das misslang, 21 Abweichler aus der eigenen Fraktion ausschloss.
Eine Strategie, mit denen die neue Führung die konservative Partei zu einer "Brexit-Sekte" umformen wolle, beklagen gemäßigte Tories. Die Hardliner dagegen wollen nicht nur den Austritt aus der EU, sie wollen ihn am liebsten gleich mit der Kettensäge.
Immer wieder protestieren die Briten gegen den Brexit - aber auch für ihn. Die Fronten verlaufen quer durch die etablierten Parteien. (Bild: Archiv)
Links oder rechts - das gilt nicht mehr
Diese Polarisierung geht längst über die Regierungspartei hinaus. Denn auch in der oppositionellen Labourpartei ist der Riss zwischen Brexit-Gegnern und Befürwortern kaum noch zu übertünchen. Davon profitieren die Liberaldemokraten, die sich klar für den Verbleib in der EU aussprechen.
Der Brexit habe mit dem politischen Schema von einst - links die Labourpartei, rechts die Tories - aufgeräumt, meint der "Times"-Journalist Ian Martin: "Es hat einige Zeit gedauert, bis Politiker, Beobachter und Wähler sich daran gewöhnt haben. Nun entsteht etwas völlig Neues."
Für oder gegen Brexit - auch in der Bevölkerung stehen sich die beiden Lager inzwischen zunehmend unversöhnlich gegenüber. Im Laufe von nur drei Jahren hätten sich in der Bevölkerung unglaublich starke politische Haltungen für oder gegen den Brexit entwickelt, erläutert der Politikwissenschaftler Rob Ford. Vier von fünf Wählern fühlen sich heute einer der beiden Seiten zugehörig, weitaus mehr als einer Partei. Das sei äußerst ungewöhnlich.
Die Nerven liegen blank in Großbritannien: Hier protestiert ein aufgebrachter Mann gegen die Zwangspause des Unterhauses. (Bild: Archiv)
Es kommt sogar zu Gewalt
Ungewöhnlich ist auch, dass die Spannungen auf der Straße zunehmen. Bei Demonstrationen für und gegen Johnsons kompromisslosen Brexit-Kurs muss inzwischen immer wieder die Polizei eingreifen.
Appelle wie der des konservativen Politikers Nicholas Soames klingen fast schon wie aus der Zeit gefallen: Das Unterhaus möge zum Geist des Kompromisses, der Demut und des gegenseitigen Verständnisses zurückfinden, damit die Abgeordneten sich endlich wieder den wichtigen Dingen zuwenden können, die wegen des Streits um den Brexit so sehr vernachlässigt worden sind.
Der Appell des Churchill-Enkels dürfte ungehört verhallen. Auch Soames ist dem Krieg in der Konservativen Partei zum Opfer gefallen, weil er sich für einen geregelten Brexit stark gemacht hatte. Der Kampf um den Ausstieg aus der EU geht weiter und erschüttert Großbritannien in seinen Grundfesten.