Vorwürfe im Gazakrieg Setzt Israels Armee menschliche Schutzschilde ein?
Palästinenser berichten, israelische Truppen hätten sie im Gazakrieg gezwungen, Armeeuniformen zu tragen und Gebiete zu erkunden, die den Soldaten selbst zu gefährlich sind. Hinweise darauf gibt es auch aus Reihen des Militärs.
"Sie haben uns die Augen verbunden und uns am Rücken gefesselt", sagt er über israelische Soldaten. "Sie haben uns in ihren Jeeps mitgenommen und wir saßen in einem Haus. Am nächsten Tag haben sie uns dann mit Gewalt mitgenommen und gesagt: Entweder kommt ihr mit oder wir töten Euch."
"Bleib hier, geh dorthin"
15 Tage lang sei das so gegangen, sagt er. Die Aufgabe von Mohammed Saad: Er sei von der israelischen Armee vorangeschickt worden, wenn Gefahr drohte: "Sie haben mich und jemanden anderes losgeschickt. Sie haben uns eine Kamera in die Hand gegeben, zusätzlich zur Kamera am Helm. Und sie haben uns per Kopfhörer gesteuert und gesagt: Bleib hier, geh dorthin, filme dieses Haus, halte auf dieser Straße."
Stimmt das, was Mohammad Saad berichtet, dann hat die israelische Armee ihn als menschlichen Schutzschild eingesetzt. Er musste in Häuser, bevor die Truppen hineingingen - er musste Gefahren auf sich nehmen, denen sich israelische Soldaten nicht aussetzen wollten. Über solche Vorwürfe hatte etwa die israelische Zeitung Haaretz jüngst berichtet.
Ähnliche Berichte von israelischen Soldaten
Nadav Weiman, der Direktor der israelischen Organisation Breaking the Silence, hat für das Vorgehen Belege von der anderen Seite. Schon seit Dezember melden sich bei ihm immer wieder Soldaten, die im Gazakrieg im Einsatz waren und die berichten, wie palästinensische Zivilisten in Gaza eingesetzt werden.
Die israelischen Streitkräfte nähmen einen Palästinenser aus den humanitären Zonen und brächten ihn zu den Kampftruppen in Gaza, in unterschiedliche Einheiten, sagt Weiman. Sie zögen ihm eine Armeeuniform an, mal würde er mit einer Kamera ausgestattet, an der Brust oder auf einem Helm. Und dann würden die Palästinenser losgeschickt, um Tunnel oder Häuser zu durchsuchen - oder Gebiete, in die die Truppen hinein wollten. Sie würden prüfen, ob es Bomben, Sprengfallen oder Ähnliches gebe.
Nadav Weiman, Direktor der israelischen Organisation Breaking the Silence. Er habe Belege dazu, wie palästinensische Zivilisten in Gaza eingesetzt würden
An vielen Orten im Gazastreifen haben israelische Truppen Eingänge zu Tunneln entdeckt, aus denen heraus Kämpfer der Terrororganisation Hamas operieren. Sie zu betreten, bedeutet großes Risiko für die Soldaten. Das gilt auch für den Häuserkampf in vielen Teilen des Gazastreifens.
Keine Einzelfälle?
Breaking the Silence, die israelische Nichtregierungsorganisation, bekommt zwei bis drei neue Berichte von Soldaten über Vorfälle dieser Art pro Woche. Für Nadav Weiman ist das ein Beleg, dass es nicht um Einzelfälle geht, sondern dass die Praxis, palästinensische Zivilisten in gefährliche Situationen voranzuschicken, weitverbreitet ist - seit Monaten, im gesamten Gazastreifen, in verschiedenen Einheiten.
In einer Einheit hat der Offizier gesagt: Du musst nicht über Kriegsverbrechen nachdenken. Ich bin dein Offizier, du musst nicht nachdenken, sondern Befehle ausführen. Woanders hat man gesagt: Es gab zu viele tote Hunde in der Armee - deshalb benutzen wir jetzt Palästinenser. Und in einer anderen Einheit hieß es: Willst du lieber sterben? Wir ziehen es vor, dass der Palästinenser stirbt.
Auch Mohammad Abu Al-Saied habe Angst gehabt zu sterben, sagt er. Auch er wurde nach eigener Aussage von den Soldaten 15 Tage lang mit Waffengewalt gezwungen, in Gebäude zu gehen. Man habe ihm eine israelische Uniform angezogen, damit im Zweifel er zur Zielscheibe werde und nicht die israelischen Soldaten. Er hätte durch verschanzte Hamas-Kämpfer getötet werden können, durch Sprengfallen oder Bomben.
"Ich kann nicht glauben, wie ich da rausgekommen bin"
Er berichtet, wie er vor den Soldaten in viele Häuser habe gehen müssen. Drinnen musste er filmen, jede Tür öffnen, wie er dem ARD-Studio Tel Aviv erzählt. Er sei dazu mit Waffengewalt gezwungen worden. Manchmal sei auch eine Drohne dabei gewesen, wenn er in die Häuser gegangen sei, sagt Mohammad Abu Al-Saied.
Mohammad Abu Al-Saied wurde nach eigener Aussage von israelischen Soldaten 15 Tage lang mit Waffengewalt gezwungen, in Gebäude zu gehen.
Er ist Vater von sechs Töchtern und eines Sohnes und stammt auch aus Chan Yunis. Im April hätten ihn die israelischen Soldaten gehen lassen. Er habe immer noch Albträume, zum Beispiel von einem Einsatz in einem Krankenhaus, das er für die israelischen Truppen durchsucht habe: "Es war der Horror, denn im Nasser-Krankenhaus waren überall Leichen. Ich kann nicht glauben, wie ich da rausgekommen bin."
Israels Armee bestreitet die Vorwürfe
Bei den Palästinensern, die in Gaza offenbar so eingesetzt werden, handelt es sich um unschuldige Zivilisten. Das zeigt sich auch daran, dass sie nach einiger Zeit wieder freigelassen werden.
Die israelische Armee hat auf ARD-Anfrage mit einer Standardantwort reagiert: "Die Richtlinien der IDF (Israeli Defence Forces, Anm. d. Red.) verbieten den Einsatz gefangener Zivilisten in Gaza in militärischen Missionen, die sie in Gefahr bringen. Die Vorwürfe wurden zur Untersuchung an die Zuständigen weitergeleitet", heißt es.
Für Nadav Weiman von Breaking the Silence widerspricht diese Praxis nicht nur dem humanitären Völkerrecht, sondern auch den ethischen Standards der israelischen Armee: "Wir glauben, dass wir eine Armee brauchen und uns verteidigen müssen. Aber was wir in Gaza sehen, ist keine Selbstverteidigung, das ist ein politischer Krieg."
Gaza sei kein militärisches Problem und deshalb gebe es keine militärische Lösung, sagt er. Wolle man über eine politische Lösung sprechen, sei es entscheidend aufzudecken, wie die israelische Armee in Gaza operiert.
Mohammad Saad zeigt noch einen Verband quer über seine Brust. Den trägt er seit seinem letzten Einsatz: Wieder sei er vorangeschickt worden. Dann sei ein Schuss gefallen. Aufgewacht ist er im Krankenhaus. Immerhin hat er seine Einsätze für die israelische Armee überlebt.