Nach Erdbeben in Afghanistan Hoffnung auf Rettung von Überlebenden schwindet
Am zweiten Tag nach den schweren Erdbeben in Afghanistan gibt es wenig Hoffnung, Überlebende zu finden. Laut Behördenangaben starben mindestens 2.400 Menschen. Das Ausmaß der Zerstörung und die Not sind im Westen des Landes besonders groß.
Nach der verheerenden Erdbebenserie in Afghanistan schwindet die Hoffnung auf Rettung von Überlebenden. Helferinnen und Helfer, die in die Katastrophengebiete im Westen des Landes geeilt waren, berichteten von einem großen Ausmaß der Zerstörung. Das Ministerium für Katastrophenhilfe bezifferte die Zahl der Toten auf mehr als 2.400, weitere 2.000 Menschen seien verletzt worden.
Ein Nachbeben der Stärke 4,9 erschütterte den Nordwesten Afghanistans - das Epizentrum lag 33 Kilometer nordwestlich der Provinzhauptstadt Herat, wie die US-Erdbebenwarte USGS mitteilte.
Gerade im Westen des Landes sei "die Not wirklich groß", berichtet ARD-Korrespondentin Charlotte Horn. In der zweiten Nacht in Folge hätten Menschen in Herat unter freiem Himmel übernachten müssen.
In zahlreichen Dörfern nordwestlich Herats seien Häuser durch das Beben dem Erdboden gleichgemacht worden, sagten Augenzeugen - wie Mir Ahmad vor einem Krankenhaus im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters.
"Viele unserer Familienmitglieder wurden bei dem Erdbeben getötet, darunter einer meiner Söhne, und mein anderer Sohn ist ebenfalls verletzt. Die meisten Menschen liegen unter den Trümmern", schilderte er.
Nothilfebüro: Mehr als 11.000 Menschen betroffen
Die von den Behörden genannten Zahlen konnten zunächst nicht unabhängig verifiziert werden. Es wäre eines der schwersten Erdbeben seit Jahrzehnten in Afghanistan. Das UN-Nothilfebüro OCHA sprach am Abend von mehr als 1.000 Toten, man gehe aber davon aus, dass die Zahl der Opfer steige, wenn abgelegene Regionen erreicht würden.
Mehr als 11.000 Menschen seien von dem Erdbeben betroffen. Die Vereinten Nationen gaben fünf Millionen US-Dollar (4,7 Mio Euro) Soforthilfe frei und kündigten nach der Abschätzung des Bedarfs einen baldigen Spendenaufruf an. Fraglich sei, wie viel Aufmerksamkeit Afghanistan angesichts weiterer internationaler Krisen - etwa in Israel oder der Ukraine - bekomme, so ARD-Korrespondentin Horn. Das Erdbeben in Afghanistan stehe "eher in der zweiten oder dritten Reihe".
Bezirk nordwestlich Herats am stärksten betroffen
Am Samstagmorgen hatten mehrere Erdbeben Bewohner der afghanischen Grenzprovinz nahe dem Iran aufgeschreckt. Innerhalb von nur wenigen Stunden bebte die Erde neunmal. In mindestens elf Dörfern im Westen Afghanistans wurden laut des Nothilfebüros der Vereinten Nationen sämtliche Häuser zerstört, die Trümmer begruben viele Menschen unter sich.
Am stärksten betroffen war der Bezirk Sindadschan, nordwestlich von Herat. Militär und Rettungsdienste eilten in die Katastrophengebiete. Die beiden schwersten Beben hatten laut der US-Erdbebenwarte USGS eine Stärke von 6,3.
Auch ARD-Korrespondentin Horn berichtet von einem großen Ausmaß der Zerstörung besonders in den ländlichen Gebieten. Vielerorts seien Häuser einfach gebaut, aus Lehm und Holz. Laut Augenzeugen, die Horn zitiert, sind sie "offenbar schon beim ersten Beben komplett in sich zusammengesackt".
EU und UN versprechen Hilfe
Das Nothilfebüro der Vereinten Nationen erwartet, dass die Zahl der Opfer noch steigt, wenn Rettungskräfte abgelegene Regionen erreichen. Die Menschen in dem betroffenen Gebieten brauchen Zelte, Decken, Lebensmittel und Trinkwasser. UN-Generalsekretär Antonio Guterres rief die internationale Gemeinschaft auf, die Menschen in Afghanistan zu unterstützen.
Die Europäische Union (EU) versicherte der betroffenen Bevölkerung Afghanistans ihre volle Solidarität, wie EU-Chefdiplomat Josep Borrell beim Kurznachrichtendienst X (früher Twitter) schrieb. "EU-Teams haben das Katastrophengebiet bereits erreicht, um zu helfen", teilte Borrell mit, ohne Details zu nennen.
Die EU habe mitgeteilt, Partnerorganisationen zu unterstützen, die bereits in Afghanistan sind, so ARD-Korrespondentin Horn. Gerade am Samstag sei sowieso eine große Hilfslieferung von der EU in Kabul gelandet. Darin enthalten seien 100 Tonnen medizinischer Ausrüstung. "Genau das braucht es jetzt". Die Menschen hätten "von jetzt auf gleich alles verloren".
"Die große Frage" sei, wie Hilfen ins Land gelängen, so Horn. Noch helfen vor allem Organisationen, die sowieso schon vor Ort seien. Nun hätten die Taliban aber international aktiv um Unterstützung gebeten - nach einer Zeit der politischen Isolation. Gerade Verbündete wie China und Pakistan gehörten zudem zu Helfern.
Die Hilfsorganisationen zogen sich auch deshalb zurück, weil unter den Taliban Frauenrechte eingeschränkt wurden. In vielen Bereichen sei ihnen die Arbeit verboten worden - auch für die Vereinten Nationen, so Horn. Für die Menschen vor Ort könne es ein positives Zeichen sein, wenn wieder mehr Hilfsorganisationen ins Land gelassen würden.
Trauernde im Distrikt Zenda Jan in der Provinz Herat bei der Beerdigung eines Verwandten.
Schlecht gegen Erdbeben gerüstet
Selbst 300 Kilometer entfernt - im Nachbarland Iran - wackelten am Samstag Wände und Deckenleuchten, wie Bewohner der Millionenmetropole Maschhad erzählten. Auch dort setzten die Behörden Rettungsdienste in Alarmbereitschaft und schickten Teams an die Grenze, um mögliche Schäden zu untersuchen.
Die Beben wecken Erinnerungen an die verheerende Katastrophe im Sommer vergangenen Jahres, als im Osten des Landes bei einem Erdbeben der Stärke 5,9 mehr als 1.000 Menschen in den Tod gerissen wurden. Nach Jahrzehnten voller Konflikte sind viele Dörfer mit einfacher Bauweise schlecht gegen Erdbeben gerüstet.
Seit mehr als zwei Jahren sind in Afghanistan die Taliban wieder an der Macht. Das Land ist wegen seiner repressiven Politik, die vor allem Frauen und Mädchen diskriminiert, international politisch isoliert. Immer wieder ereignen sich schwere Erdbeben in der Region, besonders am Hindukusch, wo die Indische und die Eurasische Platte aufeinandertreffen.
Mit Informationen von Astrid Corall, ARD-Studio Neu-Delhi