Nach Festnahmewelle Was Venezuelas Oppositionelle in Haft erleben
Bei den Protesten in Venezuela wurden 1.200 Menschen festgenommen, Unzählige gelten als verschwunden. Im Gefängnis droht ihnen Folter. Besonders dramatisch ist die Lage für Frauen.
In der Dämmerung zünden die Menschen in Caracas Hunderte Kerzen an, die einen flackernden Schriftzug bilden: "Libertad y Paz", Freiheit und Frieden, leuchtet nun weithin sichtbar in der Dunkelheit. Darum herum haben sich etwa 2.000 Venezolaner zu einer Mahnwache versammelt. Eine Frau trägt ein T-Shirt mit der Forderung, die "Zentren der Folter" zu schließen - Gefängnisse meint sie.
Vor der umstrittenen Präsidentschaftswahl in Venezuela Ende Juli hat es etwa 300 politisch Inhaftierte im Land gegeben. Inzwischen sind laut Menschenrechtsorganisation "Foro Penal" mehr als 1.200 Menschen festgenommen worden, die Regierung spricht von mehr als 2.200. "Eine Repression dieses Ausmaßes hat es in Lateinamerika nicht mehr seit dem Putsch in Chile durch Pinochet 1973 gegeben", sagt Marino Alvarado von der venezolanischen Menschenrechtsorganisation Provea auf der Mahnwache.
"Libertad y Paz", ein aus Kerzen gebildeter Schriftzug bei einer Mahnwache in Caracas.
Minderjährige ohne Kontakt zu Eltern
Unter den Festgenommen sind auch etwa 120 Minderjährige. Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro bezeichnet sie als "subversive" Kräfte, beschuldigt ausländische Regierungen, sie zu Terroristen auszubilden: "Es sind nicht unsere venezolanischen Jugendlichen, sondern kriminelle Gruppen. Die Jugendlichen werden in Banden gesteckt und dafür bezahlt, zu töten. 80 Prozent von ihnen sind in Texas, Kolumbien, Peru und Chile ausgebildet worden."
Was ihnen in Haft droht, kann der heute 21-jährige Dylan Canache schildern. 2018 wurde er um 3:00 Uhr morgens von Sicherheitskräften gewaltsam aus der Wohnung seiner Mutter geholt. Fünf Monate saß er nach der Festnahme in einem Gefängnis. "In meiner Zelle gab es kein Licht, ich habe nichts gehört, überall gab es Kakerlaken. Irgendwann bin ich erkrankt. Die Medizin, die meine Eltern schickten, wurde mir geraubt." Seine Eltern kannten über Monate seinen Aufenthaltsort nicht.
Hunger, Krankheit, Folter
Immer wieder prangern Menschenrechtsorganisationen die menschenunwürdigen Bedingungen in den Gefängnissen an: Laut Amnesty International werden Inhaftierte teils Monate bis Jahre von Angehörigen isoliert, bekommen kaum Trinkwasser, nur in äußersten Notfällen medizinische Versorgung.
Viele erleben auch Folter, wie Dianett Blanco berichtet, die vor sechs Jahren nach einjähriger Haft entlassen wurde: "Mein Körper wurde unter Strom gesetzt, über meiner Zelle habe ich Schreie von Gefolterten gehört. Dieser Horror wird mich mein Leben lang verfolgen."
Humberto Prado beobachtet mit seiner Nichtregierungsorganisation "Observatorio Venezolano de Prisiones" (OVP) seit 20 Jahren die Missstände in den Gefängnissen Venezuelas. "Es gibt Korruption, Minderheiten werden ohne Respekt behandelt", berichtet er. "Die Inhaftierten müssen sogar ihren Aufenthalt selbst zahlen." Für ihn gehören die venezolanischen Gefängnisse im internationalen Vergleich zu den schlimmsten.
Maduro spricht von "Orten maximaler Sicherheit"
Maduro hingegen bezeichnet die Gefängnisse hingegen als "Orte maximaler Sicherheit". Einer dieser Orte: Tocorón. Die Haftanstalt gilt als berüchtigt, ist in der Hand krimineller Mafiabanden, die hinter Gittern ein Herrschaftssystem eingerichtet haben. Dennoch ist sie Maduros ganzer Stolz: "Ich habe Tocorón fertiggestellt, werde euch alle da rein bringen, damit ihr für eure Taten bestraft werdet."
23 Gefängnisse gibt es in Venezuela, davon nur eines für Frauen. In allen übrigen Anstalten werden sie in abgetrennten Trakten untergebracht. Zeugenaussagen zufolge würden sie aber manchmal auch in Sammelzellen gemeinsam mit Männern eingesperrt. Sie bekommen die prekäre Lage besonders zu spüren, sagt Provea-Anwältin Karen Varela: "Neben all den anderen Mängeln leiden Frauen zusätzlich darunter, keinen Schutz als Mütter zu bekommen, die stillen. Auch ihre Kinder bekommen keine Versorgung. Zusätzlich sind sie sexuellem Missbrauch durch die Gefängniswärter ausgesetzt."
Nach Angaben von Provea waren 2023 fast doppelt so viele Menschen inhaftiert, wie Plätze vorhanden waren. Maduros Festnahmewelle der vergangenen zwei Wochen dürfte die Lage noch verschärft haben. Überall wittert der Staatschef Terrorismus, diesem Vorwurf sind auch vier Journalisten ausgesetzt, die von den landesweiten Protesten berichtet haben. Auf den Straftatbestand Terrorismus drohen in Venezuela 30 Jahre Haft. Die meisten Inhaftierten bekommen keinen juristischen Prozess.
Medienvertreter besonders gefährdet
Doch ohne Prozess keine Hoffnung auf Haftentlassung, sagt Barbara Canino Peña. Sie ist die Tochter der festgenommenen Fotojournalistin Deisy Peña. Auch sie sei am frühen Morgen ohne Vorankündigung von Beamten abgeholt worden, ohne dass die Familie über ihren Aufenthaltsort informiert worden sei. Weder sei ihre Mutter über ihre Rechte aufgeklärt worden noch habe man ihr erlaubt, sich einen Anwalt zu nehmen, schildert die Tochter.
Trotz der willkürlichen Repressalien würden viele Journalisten ihre Berichterstattung nicht aufgeben, sagt eine Journalistin, die aus Sicherheitsgründen nicht mit Namen genannt werden will: "Einige von uns haben Nachrichten erhalten, dass wir aufpassen sollen, dass wir uns nicht aus dem Haus begeben sollen. Sie wollen uns einschüchtern." Als Journalistin werde sie aber immer auf Seite der Demokratie, Freiheit und Menschenrechte stehen: "Ich will sichtbar machen, was hier geschieht."
Maduro will neue Gefängnisse bauen
Doch nicht alle Venezolaner können und wollen dieses Risiko in Kauf nehmen, sagt ein Aktivist, der auch nicht namentlich nicht genannt werden will: "Viele Freunde von mir haben sehr viel Angst, sie werden verfolgt, müssen sich verstecken. Ich würde zum Beispiel nicht mit meiner Partnerin gehen. Meine Mutter hat mich gebeten, zu Hause zu bleiben. Kinder sieht man auch nicht auf den Demonstrationen." Die Spannung liege in der Luft, so der Aktivist.
Eine Verbesserung ist kaum in Sicht. Maduro hat angekündigt, zwei neue Hochsicherheitsgefängnisse zu bauen. Doch nicht, um die überbelegten Haftanstalten zu entlasten, sondern "für eine neue Generation von Banden". Dort soll eine Umerziehung stattfinden: "Ich wette, sie werden dort produktiv sein und arbeiten."