Lage in Haiti Verzweifeltes Warten auf die Polizeimission
Mit jedem Monat nimmt die Gewalt in Haiti zu. Doch eine geplante internationale Polizeimission unter Führung Kenias wurde vom Oberste Gerichtshof des Landes gestoppt. Ist das Vorhaben gescheitert - oder gibt es eine Alternative?
In einzelnen Stadtteilen von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince können sich die Bewohner kaum noch frei bewegen, weil sie von den Gangs kontrolliert werden. Mittlerweile werden 80 Prozent der Hauptstadt von rund 300 kriminellen Banden tyrannisiert.
Tankred Stöbe war zuletzt im Januar für Ärzte ohne Grenzen in Haiti. Die mobilen Teams der internationalen Hilfsorganisation arbeiten in den verschiedenen Stadtvierteln und in Camps für intern Vertriebene. Auch im Stadtteil Brooklyn im größten Armenviertel Cité Soleil.
Sexualisierte Gewalt eines der größten Probleme
Dort gebe es kaum Zugang zu sauberem Wasser, auch keine Abwasserentsorgung, keine Elektrizität, berichtet er. Der Müll staple sich überall. Ein noch größeres Problem sei jedoch die sexualisierte Gewalt. Die Organisation habe allein im letzten Jahr 4.000 Frauen behandelt.
Eine der grausamsten Geschichten sei ihm in einem der Elendsvierteln begegnet, erzählt Stöbe. Der Bandenboss dort habe regelmäßig 16-Jährige vergewaltigt, "und als er im Oktober letzten Jahres erschossen wurde, ging erstmal eine Erleichterung durch die Straßen, bis dann klar wurde, dass sein Nachfolger mit diesem grausamen Vorgehen weitermacht, aber nicht nur die 16-Jährigen, sondern auch die 12-Jährigen werden nun vergewaltigt", berichtet der Koordinator von Ärzte ohne Grenzen.
Schlimmster Monat seit zwei Jahren
Nach Angaben der Vereinten Nationen war der Januar mit mehr als 800 getöteten, entführten oder verletzten Zivilisten der schlimmste Monat seit mehr als zwei Jahren, hinzu kommen 300 getötete Bandenmitglieder.
Um der Bandengewalt zu entkommen, mussten bis Ende 2023 insgesamt 314.000 Menschen ihr Zuhause verlassen.
"Krise darf sich nicht auf die Region ausweiten"
Im Nachbarland Dominikanische Republik wächst die Angst, vom Rest der Welt mit den Folgen der humanitären Krise alleingelassen zu werden.
Entweder man kämpfe zusammen, um Haiti zu retten oder die Dominikanische Republik kämpfe alleine, um sich zu schützen, warnt Präsident Luis Abinader vor den Vereinten Nationen. Es müsse verhindert werden, dass Haiti im Chaos und in der Anarchie versinke. Die Krise dürfe sich nicht auf die Region ausweiten. Währenddessen schottet sich das Land bereits mit dem Bau einer Mauer zu Haiti ab.
Haitis Ministerpräsident Ariel Henry fordert seit mehr als einem Jahr Unterstützung durch ausländische Einsatzkräfte. Der UN-Sicherheitsrat hatte im vergangenen Oktober schließlich einen internationalen Polizeieinsatz genehmigt.
Kenia erklärte sich bereit, die Federführung einer Mission mit etwa 1.000 Personen zu übernehmen. Von den großen Geberländern - weder Europa noch Nordamerika - wollte niemand die Verantwortung übernehmen, sich der katastrophalen Situation anzunehmen. Jedoch stoppte der Oberste Gerichtshof in Nairobi die Entscheidung der kenianischen Regierung vorerst.
Trotz Urteil, wird der Einsatz vorangetrieben
Die internationale Gemeinschaft rechnet derzeit offenbar trotzdem mit dem Einsatz: Im Anschluss an eine Sondersitzung zur Situation in Haiti am Rande des G20-Gipfels in Brasilien in der vergangenen Woche gab US-Außenminister Antony Blinken bekannt, dass zusätzlich zu den von den USA bereits zugesagten 200 Millionen US-Dollar mindestens 120 Millionen US-Dollar für die geplante Polizeimission für Haiti zugesagt worden seien.
Trotz des Urteils des Obersten Gerichtshofs treibe das Land den Einsatz voran, erklärt Diego Da Rin von der Nichtregierungsorganisation International Crisis Group. Die kenianische Regierung argumentiert mit einer weiteren Klausel, die den Einsatz möglich mache.
Das Land arbeite an einem Abkommen, das noch in dieser Woche, während des Aufenthaltes von Ariel Henry in Kenia, unterschrieben werden könne. Die kenianische Regierung gehe zwar auch in Revision gegen das Urteil, werde aber nicht den Richterspruch abwarten. Das heißt, der Einsatz könne vielleicht im März oder April beginnen. Zumindest mit einer Vorhut von Einsatzkräften.
Benin stellt Verstärkung in Aussicht
Hinter verschlossenen Türen werde aber dennoch auch über einen Plan B nachgedacht, sollte Kenia sich am Ende doch zurückziehen. Welche Länder im Gespräch sind, darüber ist offiziell wenig bekannt. Es dürfte schwierig werden und noch mehr Zeit dauern, während sich die Situation in Haiti täglich verschlechtert.
Derweil sagte Benin am Dienstag zu, 2.000 Soldaten zusätzlich zu schicken, um die Polizei des Karibikstaates im Kampf gegen die bewaffneten Banden zu unterstützen, während andere Länder der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) ihre Truppen freiwillig zur Verfügung stellen würden, um Ausbildung und andere Hilfe zu leisten, wie es auf einer Pressekonferenz hieß.
Ungebrochener Waffenschmuggel
Ein grundlegendes Problem sei der fast ungebrochene Waffenschmuggel aus den USA, so Diego Da Rin: "Die Vereinigten Staaten haben zwar eine spezielle Investigativ-Einheit gebildet, aber es gibt keine effektiven Maßnahmen, um die Häfen, die Schiffe zu kontrollieren, über die die illegalen Waffen nach Haiti und generell in die Karibik kommen."
Waffen mit denen die Gangs sich gegenseitig bekriegen, aber unter denen vor allem auch die Bevölkerung leide. Tankred Stöbe appelliert an internationale Hilfsorganisationen, sich trotz der angespannten Lage mehr zu engagieren.
Die Menschen brauchten Hilfe. Ärzte ohne Grenzen versorge die Bewohner in den Vierteln, aber auch verletzte Bandenmitglieder. Deswegen hätten die 1.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fast uneingeschränkten Zugang, obwohl die Arbeit auch für sie selbst gefährlich sei: "Wir können aus Brooklyn nicht raus, weil es keinen anderen gibt, der übernehmen würde". Und wenn seine Organisation ihre Aktivitäten dort einstellte, so Stöbe, hätten die Menschen eben gar nichts mehr.