Haiti und Dominikanische Republik Ein Kanal für die Unabhängigkeit
Die Karibikinsel Hispaniola ist zweigeteilt. Während Haiti in Chaos und Gewalt versinkt, ist die Dominikanische Republik vergleichsweise wohlhabend und stabil. Nun führt der Bau eines Kanals an der Grenze zu einer diplomatischen Krise.
Männer hieven Metallstangen in einen Graben. Merlande steht am Rand der Baustelle und macht eine Pause. Die 31-Jährige hat selbst mitgearbeitet. Der Kanal sei wichtig für die Menschen in der Region. Früher sei dort viel Reis angebaut worden. Doch weil es wenig regnet, gebe es keine Ernte mehr.
Wegen der Trockenheit in der Region haben die Haitianer angefangen, einen Kanal zu bauen, um die umliegenden Felder zu bewässern. Das Wasser vom Grenzfluss Massacre soll abgeleitet werden. "Hier, in dieser Region sind die Nahrungsmittel knapp und wir arbeiten daran, das zu ändern, für ein unabhängiges Haiti", sagt Merlande. Geld bekommt sie für ihren Einsatz nicht. Sie trägt wie viele eine kleine Nationalflagge an ihrem Bauhelm.
Am Graben herrscht Volksfeststimmung. Essstände reihen sich aneinander. Eine Bühne für Gottesdienste wurde für die Arbeiter errichtet. Die Vorstellung, nicht auf Nahrungsmittel aus der Dominikanischen Republik angewiesen zu sein, stimmt viele Menschen euphorisch.
Konfliktreiches Verhältnis
Haiti befindet sich anders als sein Nachbarland seit Jahren in der wirtschaftlichen und politischen Dauerkrise. 80 Prozent der Menschen leben in Armut. Vor allem in der Hauptstadt Port-au-Prince prägt die Gewalt krimineller Banden den Alltag.
In der haitianischen Grenzstadt Ouanaminthe ist es dagegen vergleichsweise ruhig. Doch Arbeit und Perspektiven gibt es für die Menschen auch hier nicht. Unter den Bauarbeitern ist auch José. Er gibt sich kämpferisch: "In einem Jahr werden wir nicht mehr von einem anderen Land abhängig sein."
War das Verhältnis zur Dominikanischen Republik schon zuvor konfliktreich - das wohlhabendere Land baut an einer Mauer, um sich von Haiti abzuschotten - so hat der Bau des Kanals eine handfeste diplomatische Krise ausgelöst. Das Nachbarland hat die Grenze deswegen für einige Wochen geschlossen. Nach dominikanischer Lesart gräbt Haiti der dominikanischen Seite das Wasser ab. Haiti verweist hingegen auf Verträge aus der Vergangenheit und sieht sich im Recht.
Hartes Vorgehen gegen Haitianer
Seither geht die Dominikanische Republik immer härter gegen die Haitianer im Land vor. Hunderte werden täglich abgeschoben, dokumentiert Jocelyn Petion von der haitianischen Menschenrechtsorganisation GARR. Es seien manchmal 300 bis 500 Haitianer, die an einem Grenzübergang abgeschoben würden.
Gerade auch schwangere Frauen kämen häufig in einem schlimmen Zustand auf der haitianischen Seite an. Sie trauten sich nicht, Kliniken in der Dominikanischen Republik aufzusuchen, weil sie dann direkt abgeschoben würden. Ihre Rechte würden nicht geschützt. Eine totkranke junge Frau sei am Tag zuvor über die Grenze getragen worden, berichtet Petion. Sie sei kaum bei Bewusstsein gewesen.
Permanente Angst vor der Abschiebung
Erfahrungen dieser Art gibt es viele. Vor einigen Wochen wurden Marie-Julie Boursiquot mit ihren drei Kindern und ihrem Mann brutal aus ihrer Wohnung gezerrt. Es war vier Uhr morgens, als die Polizei bei der Familie klingelte, erzählt Boursiquot. Die Polizisten hätten ihnen direkt Handschellen angelegt. Sie sei nur in Unterwäsche gekleidet gewesen. Sie hätten ihr keine Zeit gegeben, sich anzuziehen, sie brutal angefasst, ihrem Mann ins Gesicht geschlagen, sein Auge habe geblutet.
Vor zwei Monaten war Boursiquot ihrem Mann in die Dominikanischen Republik hinterhergezogen, um der Gewalt in Port-au-Prince zu entkommen. In ihren Nachbarbezirk waren Banden eingedrungen, zündeten Häuser an, vergewaltigten Frauen. Sie wollte nicht das nächste Opfer sein, erklärte sie.
Doch auch in der Dominikanischen Republik fühlten sie sich schnell nicht mehr sicher. Während ihr Mann auf dem Bau arbeitete, traute sie sich kaum raus - wegen der massiven Diskriminierung und vor allem aus Angst vor der Abschiebung, erzählt die junge Frau. Alle ihre Wertsachen, ihre Handys seien ihnen von den Polizisten abgenommen worden.
Nach ihrer Abschiebung ist die Familie in den letzten Wochen in Räumlichkeiten der Menschenrechtsorganisation GARR untergekommen. Wie es weitergehen soll, wüssten sie nicht, sie hätten keine Ersparnisse und keine Angehörigen außerhalb der Hauptstadt, erzählt Marie-Julie Boursiquot. Doch in einem Punkt ist sie sich sicher: Nach Port-au-Prince will sie nicht zurück.