Bandenkriminalität in Haiti Wenn die Polizei keinen Schutz bieten kann
Jugendbanden terrorisieren Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, morden, entführen, vergewaltigen. Tausende fliehen nach Überfällen zwischen den Vierteln hin und her - Justiz und Sicherheitsbehörden sind machtlos.
Es war an einem Sonntagnachmittag im August, als die Schüsse immer näherkamen, erinnert sich Widna. Ihren kompletten Namen will sie nicht nennen. "Wir waren zu dritt in unserer Wohnung, mein Mann, mein Sohn und ich. Wir haben uns die Sachen geschnappt, die wir in dem Moment gefunden haben, und sind geflüchtet." Eine Gang sei in ihren Stadtteil Carrefour-Feuilles eingedrungen. Die Bandenmitglieder hätten wild um sich geschossen, einige Nachbarn seien getötet worden.
So schnell sie können, läuft die Familie Richtung Stadtzentrum in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince, vorbei an brennenden Häusern, die die Bandenmitglieder angezündet haben. Der Rauch wabert auch noch Tage später über den ausgebrannten Mauern. Widna und ihre Familie finden Zuflucht in einer Schule, nur 20 Minuten von ihrem Wohnviertel entfernt. Wirklich sicher sind sie auch dort nicht.
Widna ist im sechsten Monat schwanger. Sie schläft auf dem nackten Fußboden, im überdachten Hof der Schule. "Nachts steigen die Leute über Dich drüber, um zu ihrem Schlafplatz zu kommen. Und wenn es regnet, dann haben sie Dreck an den Schuhen." Es sei furchtbar, erzählt Widna. Und die Regierung habe sich nicht ein Mal sehen lassen, sich noch nicht einmal geäußert, ärgert sie sich.
Es ist unerträglich heiß an diesem Tag, auch nachts kühlt es kaum ab. Morgens, wenn sie aufwacht, schwirren unzählige Fliegen um sie herum. Rund 1.000 Menschen haben in der Schule Zuflucht gefunden. Richtige Toiletten gibt es nicht, die Latrinen sind voll. Sie müssten sich mit Tüten behelfen, erzählt Widna. Müllberge stapeln sich vor dem Schulgebäude, es riecht säuerlich nach gegorenem Abfall und Kot. Hunde wühlen nach Essensresten. Eine Müllabfuhr, ein Abfallsystem, gibt es in Port-au-Prince nicht.
Geflüchtete sind in einer Schule in Port-au-Prince untergekommen.
Das Justizsystem funktioniert nicht
Das, was im August in Carrefour-Feuilles passiert ist, bezeichnet die haitianische Menschenrechtsorganisation RNDDH als Massaker. Mehr als 100 Bewohnerinnen und Bewohner seien getötet worden. Auch Fälle von Vergewaltigungen wurden dokumentiert, viele Häuser wurden angezündet, berichtet Rosy Auguste von RNDDH: Es werde immer noch schlimmer.
Die Anwältin und ihre Kollegen betreuen 87 Opfer, die sich entschlossen haben, ihre Fälle zur Anklage zu bringen. Auch wenn das Justizsystem nicht funktioniere, empfehlen sie den Opfern sich zu wehren, ihre Fälle zur Anzeige zu bringen. So könne niemand sagen, sie hätten davon nichts gewusst.
Seit 2018 hat es 25 große Massaker gegeben, zählt die haitianische Menschenrechtsorganisation. Bis heute gebe es keine Gerechtigkeit für die Opfer. Wegen ihrer Arbeit bekommt die Menschenrechtsorganisation Drohungen. Gegen das gusseiserne blaue Eingangstor wurde bereits geschossen. Mehrfach feuerten die Täter ab, die Einschusslöcher sind deutlich sichtbar.
Ein großes Problem sei, dass die Regierung selbst, aber auch die Opposition und der private Sektor die Gangs für ihre Zwecke unterstützen würden. Diese Kritik ist immer wieder zu hören. Doch mit der Zeit hätten die Gangs an Macht gewonnen, folgten mittlerweile teils ihren eigenen Interessen.
Die Polizei bietet keinen Schutz
Insgesamt gibt es laut der Internationalen Organisation für Migration in Port-au-Prince etwa 130.000 intern Vertriebene. Mehr als 5.000 Menschen sind allein aus Carrefour-Feuilles und Savanes Pistaches geflüchtet, darunter ist auch der 48-jährige Bellanger. Während des Überfalls auf das Viertel seien Sicherheitskräfte vor Ort gewesen, aber die hätten nichts ausrichten können, sagt er: "Selbst die Polizei hat uns empfohlen, dass wir schnell hier wegmüssen, weil sie nicht in der Lage seien, uns zu beschützen."
Ein Vorwurf, dem auch Lionel Lazarre nichts entgegensetzen kann. Er arbeitet für die Polizei in Port-au-Prince und ist Gewerkschaftsführer. Er kämpft für bessere Arbeitsbedingungen - die Voraussetzung, um die massive Korruption zu bekämpfen. Die Gehälter seien schlecht, eine Familie könne davon kaum leben. Es fehle an Ausrüstung: an Helmen, kugelsicheren Westen, Munition und Waffen - und einer ordentlichen Versicherung für die Polizeikräfte.
Mehrfach kam es in der Vergangenheit zu Angriffen auf Polizeistationen. Es sei egal, ob man am Schreibtisch sitze oder auf Streife sei: In Haiti riskierten Polizisten immer ihr Leben. 90 Prozent von Port-au-Prince werden bereits von den Gangs kontrolliert, sagt Bizarre. Fährt man durch die Stadt, sind Polizeikräfte auf der Straße kaum zu sehen. Lediglich in dem wohlhabenden Viertel Pétion-Ville befinden sich vermehrt Checkpoints.
Kenias Polizeimission ist umstritten
Es sind teils schlaksige Teenager, die die Bevölkerung tyrannisieren, morden, vergewaltigen. Die Rede ist von über 200 Gruppierungen, die um ihre Vorherrschaft in den Stadtteilen kämpfen. Jugendliche und sogar Kinder werden rekrutiert und mit schweren Waffen ausgerüstet. Sie haben kaum eine andere Wahl: Viele haben ihre Eltern verloren, werden zwangsrekrutiert. Perspektiven gibt es für junge Menschen nicht, es fehlt an Arbeitsplätzen. Die Korruption sei ein großes Problem, erklärt der Polizist Lazarre. Teilweise kooperierten Polizeikräfte mit den Banden.
Was er von der internationalen Polizeimission unter der Führung der Kenianer halten soll, da ist der Polizist unentschieden. Vor wenigen Wochen hat der UN-Sicherheitsrat einer internationalen Polizeimission unter kenianischer Führung zugestimmt. Viel Kritik gab es dafür unter anderem von Amnesty International, denn die kenianische Polizei steht selbst in der Kritik, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, sie sprechen außerdem Englisch und Suaheli statt Französisch und Kreol.
Die Polizei brauche vor allem bessere Ausrüstung, um überhaupt arbeiten zu können, meint Lazarre. "Aber ich bin auch nicht gegen die internationale Polizeimission, wenn sie genau das machen, was ihre Aufgabe ist: uns zu unterstützen, die Gangs zu entwaffnen."
"Ich will einfach nur zurück nach Hause"
Die haitianischen NGOs stehen der internationalen Polizeimission sehr viel kritischer gegenüber. Die finanzielle Unterstützung solle lieber in vorhandene Strukturen fließen, zuerst müsse die Justiz gesäubert werden, ist immer wieder zu hören. Diejenigen, die tagtäglich unmittelbar von der Gewalt der Gangs betroffen sind, winken ab: Hauptsache, es passiere irgendwas, sagen viele - so wie Widna.
Ihr Haus ist nach wie vor von der Gang besetzt. Die finanziellen Mittel, um woanders hinzuziehen, hat sie nicht. "Ich habe alles verloren, ich musste alles zurücklassen, und die Vorstellung, dass mein Baby hier zur Welt kommt, finde ich furchtbar", sagt sie. "Wie kann ich gegen diese internationale Polizeimission sein, ich will einfach nur zurück nach Hause und einen normalen Alltag haben."
(Mitarbeit: Jess DiPierro Obert und Jenny Mügel)