Gewalt in Haiti In der Hand von Gangs
In Haiti existiert der Staat in weiten Teilen nur noch auf dem Papier. In der Hauptstadt Port-au-Prince haben kriminelle Gangs die Kontrolle übernommen. Entführungen und sexualisierte Gewalt prägen den Alltag.
Wenn Joel Janus durch Haitis Hauptstadt Port-au-Price fahren will, weiß er selten, wie weit er kommt. Regelmäßig hindern brennende Straßenblockaden die Menschen an der Weiterfahrt. Sie können sich teilweise nicht mehr zwischen den einzelnen Stadtteilen hin und her bewegen, die von konkurrierenden Gangs kontrolliert werden.
Auch er, sagt der Bürgermeister des Armenviertels Cité Soleil am Telefon, sei von den Banden schon angegriffen worden. Sein Haus sei von Gangmitgliedern besetzt worden, seine Frau gekidnappt.
Mittlerweile ist sie wieder frei. 40.000 US-Dollar Lösegeld habe er dafür bezahlen müssen. Seither versteckten sich die beiden in einem anderen Stadtteil. Doch auch dort verlasse er kaum noch das Haus, sagt der Bürgermeister, aus Angst vor Übergriffen. Vor den Banden sei er nicht mehr sicher, seitdem er sich gegen die Gewalt ausgesprochen habe. Er fürchtet um sein Leben.
Ein Nährboden für Krankheiten und Gewalt
In seinem Stadtteil türmen sich Müllberge am Rande der Straßen, zwischen den Häusern gären Essensreste in der Sonne. Rund fünf Millionen Menschen leben in Cité Soleil in einfach zusammengezimmerten Hütten auf engstem Raum, ohne fließendes Wasser.
Ein Nährboden für Cholera, die im vergangenen Jahr zu allem Unglück erneut ausgebrochen ist, sich bislang aber entgegen allen Befürchtungen nicht extrem ausgebreitet hat. Ein viel drängenderes Problem ist die Gang-Gewalt.
Die Regierung und die Polizei sind nicht in der Lage, die Sicherheit herzustellen. Im Gegenteil: Erst in der vergangenen Woche wurden mindestens zehn Polizeikräfte von Gang-Mitgliedern getötet.
Häuser werden geplündert, abgefackelt. Die Menschen müssen flüchten. Entführungen und Erpressungen sind an der Tagesordnung. Genau wie sexualisierte Gewalt.
Vergewaltigung von Frauen als Waffe
Joe saß im Bus, als eine Gang den Fahrer zum Stoppen brachte. Alle weiblichen Insassen hätten aussteigen müssen, erinnert sich die 37-jährige Mutter. Fast alle Frauen seien von Bandenmitgliedern vergewaltigt worden, weil sie nicht genug Geld dabei hatten.
Sie selbst habe ins Krankenhaus gemusst. Die Vergewaltigung von Frauen werde als Waffe in diesem Krieg eingesetzt.
Vergewaltigungen durch die Gangs sind grausamer Alltag in Haiti. Joe will anderen Frauen helfen, sie arbeitet für die Organisation SOFA. Diese bietet psychologische Hilfe für Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben.
Jimmy Cherizier (M.) ist inzwischen einer der bekanntesten Personen in Haiti - er gilt als der mächtigste Bandenführer des Landes.
Absprachen sind unvermeidbar
Ärzte ohne Grenzen ist eine der wenigen Organisationen, die sich im ganzen Land bewegen. Oftmals müssten die Mitarbeiter mit den Bandenchefs verhandeln, um die Menschen vor Ort überhaupt versorgen zu können, sagt der Sprecher Alexandre Marcou.
Auch Gangmitglieder würden behandelt: "Sie wissen, dass sie uns brauchen und nichts dafür bezahlen müssen. Sie räumen die Barrikaden für uns, damit wir durchkommen."
Trotzdem sei er sich auch des Risikos bewusst, die die Arbeit mit sich bringt, sagt Marcou. Im Schnitt versorgt Ärzte ohne Grenzen 110 Patienten mit Schusswunden in einem Monat.
Nichts funktioniert - weder die Polizei, noch die Justiz
Die Gangs hätten zu 100 Prozent Kontrolle über Port-au-Prince übernommen, sagen die Menschen auf der Straße der Hauptstadt. Die Vereinten Nationen sprechen von 60 Prozent.
Die Lage sei unübersichtlich, sagt Rosy Auguste Ducena von der Menschenrechtsorganisation Réseau National de Défense des Droits Humains (RNDDH). Die Korruption sei ein massives Problem. Teile der Polizei hätten eine enge Verbindung zu den Gangs.
Die Unsicherheit habe natürlich auch damit zu tun, dass das Justizsystem nicht funktioniere. Die Gewalttaten würden nicht geahndet.
Interims-Staatschef ohne Legitimation?
Der amtierende Premierminister Ariel Henry hatte bereits vor Monaten die internationale Gemeinschaft um Intervention gebeten. Die Mitarbeiterin der Menschenrechtsorganisation kritisiert, dass sich der Interims-Premierminister nach wie vor auf die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft verlassen könne. Ihm fehle jedoch jegliche Legitimation.
Henry wird nachgesagt, dass er mit bestimmten Gangs verbandelt sei, genau wie allerdings auch Teile der Opposition.
Manchmal ist es auch die Polizei, die brennende Barrikaden erreichtet - wie hier in Port-au-Prince nach dem Tod mehrerer Polizisten bei Schusswechseln mit Bandenmitlgiedern.
Ruf nach neuer Intervention
Doch der Ruf nach einer internationalen Intervention wird auch in der Bevölkerung immer lauter, besonders in den armen Stadtteilen, die vorrangig unter der Gewalt der Gangs leiden. Organisationen der Zivilgesellschaft hingegen sprechen sich überwiegend für eine haitianische Lösung der Krise aus.
Denn zu präsent ist die Erinnerung an vergangene Engagements der Blauhelme. UN-Soldaten vergewaltigten Frauen, beteiligten sich am Missbrauch von Minderjährigen, wie Untersuchungen belegen. Blauhelme schleppten Cholera ein.
Die 37-Jährige Joe hat kaum Hoffnung auf eine bessere Zukunft für ihren Sohn. "Die Kinder, die jetzt aufwachsen, werden sich morgen gezwungen sehen, Waffen zu tragen. Wenn ich meinen Sohn ansehe, er ist jetzt drei Jahre alt, empfinde ich tiefe Trauer."