100 Tage Milei in Argentinien Reform per "Kettensäge" und Schimpftiraden
Radikaler Sparkurs und steigende Armut - in 100 Tagen im Amt hat Javier Milei Argentinien eine Rosskur verpasst. Doch seine strukturellen Reformen werden ausgebremst - das liegt auch an ihm selbst.
Dass an diesem Tag mal wieder Fleisch im Nudeleintopf landet, darauf ist Santiago Figueroa besonders stolz. Rund 100 Portionen gibt sein "Comedor", seine Armenküche, in Buenos Aires täglich aus.
Allerdings wird es für sein Team immer schwerer, die Töpfe zu füllen, denn sie sind auf private Spenden angewiesen. Und die nehmen ab: "Früher kostete das Kilo Fleisch 1.500 Pesos, heute kostet es 10.000 Pesos", erklärt Santiago, auch das Kochgas sei von 2.500 Pesos auf mittlerweile 14.000 Pesos gestiegen. "Das ist wahnsinnig viel." Um die Hälfte seien die privaten Spenden zurückgegangen.
Gleichzeitig steige die Zahl der Bedürftigen, die in einer der rund 35.000 Suppenküchen rund um Buenos Aires eine warme Mahlzeit suchten. Selbst in Saveedra, einem Mittelklasseviertel im Nordwesten der Stadt, in dem Santiagos Suppenküche "La Chilinga" untergebracht ist.
"Auch uns reicht es nicht mehr zum Leben", sagt Veronica Lucente. Die alleinerziehende Mutter arbeitet in einem Restaurant. "Am zehnten eines Monats geht mein Geld aus", berichtet sie. Denn während die Inflation inzwischen auf 270 Prozent geklettert ist, wurden die Löhne kaum angepasst. "Es ist schrecklich, vor allem für mich als Mutter, aber wir leben heute unterhalb der Armutsgrenze."
"No hay plata", es ist kein Geld da
Um rund 13 Prozentpunkte ist die Armut in den 100 Tagen gestiegen, in denen Javier Milei nun Präsident von Argentinien ist. Der selbst ernannte Anarchokapitalist hat, wie versprochen, die Kettensäge angesetzt: Den Staat, den der Staatschef selbst als "kriminelle Organisation" ablehnt, hat er massiv zusammengekürzt.
Die Zahl der Ministerien wurde halbiert, die Währung drastisch abgewertet, Preiskontrollen der Vorgänger aufgehoben. Dazu Subventionen, Renten und Sozialleistungen wie Kindergeld und Lebensmittelhilfen gekürzt - genauso wie Zuschüsse für jene Suppenküchen, die von sozialen Organisationen geführt werden. "No hay plata", wiederholt Milei immer wieder, es ist kein Geld da. Den Spruch gibt es inzwischen als T-Shirt-Motiv zu kaufen.
"Niemand hat gesagt, dass das einfach würde"
"Das Verdienst von Milei ist, dass er einen ausgeglichenen Haushalt sucht, das gab es seit Jahrzehnten nicht", sagt Finanzexperte und Influencer Miguel Boggiano. Auf seinem Profil der Plattform X präsentiert er sich als "Teil der 55,6 Prozent", die Milei im November gewählt haben.
"Niemand hat gesagt, dass das einfach würde. Argentinien war ja in einer katastrophalen Situation, und noch ist der Patient auf Intensivstation." Der Finanzexperte, hinter dessen Schreibtisch im Palermo-Viertel ein großes Plakat der "University of Chicago" hängt, blickt mit Optimismus in die Zukunft:
Milei habe es geschafft, eine Hyperinflation abzuwehren, es gebe erste Anzeichen einer Besserung. "Wenn wir auf die Märkte schauen, dann sehen wir, dass Investoren argentinische Anleihen kaufen, dass die Aktien ein Hoch erreicht haben. Der Markt stimmt jeden Tag ab und er stimmt mit seiner Geldbörse ab, achten Sie genau auf diesen Wähler."
Radikalumbau im Kongress ausgebremst
Doch der anfängliche Höhenflug an den Märkten ist in den vergangenen Wochen wieder etwas abgeflaut. Es herrscht eine Stimmung des Abwartens. Tatsächlich konnte die Regierung im Januar zwar einen Haushaltsüberschuss erzielen, doch viele fragen sich, wie nachhaltig ein solcher Überschuss ist, der vor allem darauf aufbaute, dass Zahlungen an Provinzen und staatliche Einrichtungen zurückgehalten wurden, Gehälter und Renten sowie Sozialpläne gestutzt wurden.
Mit seinem angekündigten Radikalumbau des Landes und damit verbundenen strukturellen Reformen des aufgeblähten Staatsapparates kommt Milei jedoch kaum voran: Sein umfangreiches Reformpaket - aufgrund der Länge und des Umfangs "Omnibus-Gesetz" genannt - hängt seit Wochen im Kongress fest. Nun lehnte der Senat auch noch Mileis Superdekret ab - das unter anderem den Arbeits- und Wohnungsmarkt flexibilisieren sollte.
Solide Mehrheiten zu organisieren, Dialogbereitschaft, das gehört nicht zu Mileis Stärken, stattdessen reagierte er mit Schimpfkanonaden per Social Media, nannte selbst einstige Verbündete "Verräter" und "Ratten" und legte sich offen mit konservativen Gouverneuren an, die seiner wirtschaftsliberalen Agenda grundsätzlich offen gegenüberstehen.
Widerstand auf der Straße
Widerstand gibt es außerdem von der Straße. Gewerkschaften und soziale Bewegungen machen seit Wochen immer wieder mobil - und oft gibt es dabei heftige Zusammenstöße mit der Polizei, die mit Tränengas und Wasserwerfern im Einsatz sind. Auch am internationalen Frauentag gingen Zehntausende auf die Straße, auch um gegen Mileis Kahlschlag zu protestieren.
In den drei Monaten seiner bisherigen Amtszeit hat der rechtslibertäre Staatschef das Ministerium für Frauen, Gleichheit und Vielfalt zu einem Unterstaatssekretariat herabgestuft, das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus aufgelöst, gendersensible Sprache offiziell verboten.
Seine Partei brachte außerdem einen Antrag ein, um Abtreibungen, die seit 2021 in Argentinien legal sind, wieder unter Strafe zu stellen. "Die Frauenbewegung hat Argentinien demokratischer gemacht, deswegen wundert es mich gar nicht, dass er uns zum Feindbild Nummer eins erklärt hat", sagt Clarissa Gambera, Gleichstellungsbeauftragte der staatlichen Gewerkschaft ATE.
Weitere Polarisierung
"Milei führt auch einen ideologischen Kampf", sagt Politologe Ivan Schuliaquer von der Universität San Martin, das habe die "Grieta", den "Riss", wie die tiefe Polarisierung in Argentinien genannt wird, weiter vertieft. "Sektoren, die ihn nicht gewählt haben, lehnen ihn noch mehr ab als vorher, bei seinen Wählern allerdings genießt er nach wie vor großen Rückhalt und außerdem die Unterstützung wichtiger Unternehmer." Problematisch werde es für ihn, wenn das Vertrauen seiner Wähler bröckelt, weil sie Situation im Land nicht mehr tragbar ist.
Wie lange die Geduld reicht, wenn in absehbarer Zeit keine wirtschaftliche Erholung eintritt, treibt selbst den Internationalen Währungsfonds um, bei dem Argentinien mit mehr als 44 Milliarden in der Kreide steht. Gita Gopinath, die erste stellvertretende geschäftsführende Direktorin des IWF, die im Februar Buenos Aires besuchte, unterstützte zwar öffentlich Mileis Bemühungen, den Haushalt Argentiniens zu konsolidieren, erklärte aber auch, es könne nicht sein, dass die Last der Anpassung "unverhältnismäßig stark" auf berufstätige Familien falle.
So sieht es auch die Restaurant-Angestellte Veronica-Lucente: "Ich habe nicht die Mittel, drei, vier Monate darauf zu warten, dass es dem Land irgendwann besser geht." Sie beschäftige sich nur noch damit, wie sie Tag für Tag über die Runden komme: "Zukunft, das gibt es für mich gerade nicht."