Milei bei Präsidentschaftswahl Kandidat für Argentiniens Desillusionierte
Der Populist Milei trifft im krisengeplagten Argentinien mit pöbelnden Auftritten einen Nerv: Er will die politische Kaste des Landes "zersägen" - und hat beste Chancen, heute zum Präsidenten gewählt zu werden.
In einem Vorort von Buenos Aires zückt Javier Milei eine Motorsäge - inmitten einer Menschenmenge - und lässt sie laut röhren. Dann wirft er Papiergeld in die Luft. Falsche Dollarscheine, auf denen sein eigenes Konterfei prangt. Milei hat beste Chancen, Argentiniens neuer Präsident zu werden. "Die Kaste zittert vor uns", brüllt er. "Die Kaste hat Angst", johlt die Menge.
Es ist Mileis Kampfschrei gegen Argentiniens Establishment, das sich seit je her auf Kosten aller anderen bereichere. Sein Plan dagegen: den Staatsapparat zersägen. Milei will die Zentralbank in die Luft sprengen, die Hälfte aller Ministerien auflösen und den Dollar als Zahlungsmittel einführen. Steuern zahlen? Ein Verstoß gegen die Menschenrechte, findet er: "Ich kandidiere nicht, um eine Schafherde anzuführen. Ich kandidiere, um Löwen aufzuwecken. Lang lebe die Freiheit! Verdammt!"
Mit der Kettensäge durch Buenos Aires: Mit solchen provokativen Auftritten hat es Milei bis zu hohen Umfragewerten im Präsidentschaftswahlkampf gebracht.
Vergleiche mit Trump und Bolsonaro
Damit trifft Milei den Nerv der Argentinier, deren Land einmal als reichste Nation Südamerikas galt, seit Jahrzehnten aber von einer Krise in die nächste schlittert - gefangen in einem ausweglosen Strudel aus Inflation, Überschuldung und wirtschaftlichem Niedergang. Aktuelle Daten: Mehr als 140 Prozent Inflation, mehr als 40 Prozent Armut, mehr als die Hälfte der Menschen hält sich mit prekären Jobs über Wasser.
Der Soziologe Eduardo Fidanza vom politischen Think Tank Poliarquía vergleicht ihn mit Ex-US-Präsident Donald Trump und Brasiliens Ex-Präsident Jair Bolsonaro: "Einer, den ein politischen System hervorbringt, das vor dem Kollaps steht, weil es ihm immer weniger gelingt, sich um die einfachsten Bedürfnisse der Menschen zu kümmern. Milei erscheint da der Messias, der der desillusionierten, wütenden Bevölkerung, das Selbstbewusstsein wiedergeben kann."
Wahlkampf vor Schulen und in Armenvierteln
Lange wurde der libertäre Populist mit seiner Frisur wie eine Kunsthaarperrücke belächelt: Anarcho-Kapitalist, so nennt sich Milei selbst. Er ist 52, hat Ökonomie studiert, arbeitet zuvor als Berater für einen der reichsten Männer des Landes. Bekannt wurde er durch exzentrische Auftritte im Boulevard-TV. Seine wütenden Frontalangriffe gegen "die da oben" machten Quote.
Es waren die jungen Wähler, die ihm zuerst zujubelten. Milei zog für Selfie-Shootings vor Schulen, gab Open-Air-Ökonomie-Kurse in Armenvierteln, verloste 2021 sein erstes Gehalt als Abgeordneter im Internet. Den Klimawandel leugnet er, den argentinischen Papst Franziskus II. nennt er einen Idioten, der mörderischen Kommunisten nahestehe - und den Handel mit Organen will Milei freigeben. Auf TikTok hat er inzwischen mehr als 2,8 Millionen Follower.
Team aus Schwester und Diktatur-Apologetin
"Bevor er der Anführer der neuen Rechten in Argentinien wurde, war Milei erstmal ein sehr, sehr einsamer Mann", sagt dagegen der Journalist Juan Luis Gonzalez, der eine - von Milei weder autorisierte noch dementierte - Biografie über den Sohn eines Busfahrers und einer Hausfrau geschrieben hat. "El Loco", heißt sie, der Verrückte.
Mileis Eltern misshandelten und demütigten ihn. Sein engster Vertrauter wurde eine riesige Dogge: Conan, die 2017 starb und die er klonen ließ. Heute lebt er mit den fünf vierbeinigen Nachfahren, denen er die Namen seiner Lieblings-Wirtschaftswissenschaftler gegeben hat. Auf dem Abschlussevent seiner Wahlkampagne am Mittwoch nannte er die Hunde "die besten Strategen der Welt".
Ebenfalls immer neben ihm: seine jüngere Schwester Karina, die er selbst "el Jefe", den Chef, nennt. Sie managt seine Partei "La Libertad Avanza", zu Deutsch "die Freiheit schreitet voran". Mileis Vizekandidatin Victoria Villaruel ist die Tochter hochrangiger Militärs, die die Diktatur verharmlost.
"Sehr hohes Maß an Improvisation"
Doch es ist etwas anderes, was Politikwissenschaftler Juan Negri - im Falle eines Wahlsieges Mileis - Sorgen um Argentiniens gerade 40 Jahre alt gewordene Demokratie bereitet: "Er wäre ein Präsident mit sehr geringer institutioneller Unterstützung, viel geringer als sie Bolsonaro in Brasilien hatte oder Trump in den USA. Es gibt nur ganz wenige erfahrene politische Kader, die ihn begleiten, das heißt: Es gibt ein sehr hohes Maß an Improvisation. Er wird die unterschiedlichen Erwartungen, die die Wähler an ihn haben, nicht erfüllen können, glaube ich, und schnell Popularität einbüßen." Negri befürchtet: Wird Milei Präsident, drohen Argentinien institutioneller Stillstand und große soziale Spannungen".
Es ist allerdings auch kein Geheimnis, dass Milei längst Allianzen mit alteingesessenen Politikern schmiedete, um ans Ziel zu kommen - also mit genau jener Kaste, die er doch eigentlich zersägen will.