Eine Schülerin zeigt während der Demo "Fridays for Future" im Zentrum von Halle/Saale ihre Hände mit der Aufschrift "Our future in our hands".
interview

Demonstrationen in Deutschland "Wenn die Hoffnung stirbt, stirbt jede Form von Aktivismus"

Stand: 31.05.2024 04:32 Uhr

Bei Demonstrationen für mehr Klimaschutz oder gegen Rechtsextremismus gelingt es oft, für eine gewisse Zeit viele Menschen zu motivieren. Langfristiges politisches Engagement aber, so Psychologin Mangelsdorf, braucht bestimmte Voraussetzungen.

tagesschau.de: Was können Demonstrationen wie etwa die von Fridays for Future bewirken?

Judith Mangelsdorf: Sie sind vor allem ein starker Impulsgeber sowohl für die Menschen, die sich daran beteiligen, aber auch für den gesellschaftlichen Diskurs und die Politik. Wenn wir uns die Forschung dazu anschauen, dann sehen wir, dass sie politische Haltungen - beispielsweise gerade der jungen Generation - mitbestimmen.

Wir sehen aber auch - gerade wenn wir die großen Demonstrationen rund um die Klimakrise anschauen - eine größere und gewachsene globale Solidarität und einen stärkeren Zusammenhalt. Wenn wir auf den historischen Kontext schauen, sind diese Demonstrationen etwas, was weltweit eine Größenordnung erreicht hat, die fast einzigartig ist in der Geschichte unserer Welt.

Und das Dritte, das man nennen sollte, ist das Thema Optimismus. Das Zusammenkommen vieler Menschen, die sich unter einem Thema wiederfinden und damit versuchen, etwas im Großen zu bewirken, sorgt durchaus dafür, dass Menschen wieder optimistischer werden in Bezug auf die Zukunft und deren Gestaltung.

Judith Mangelsdorf
Judith Mangelsdorf

Judith Mangelsdorf ist eine deutsche Psychologin, Glücksforscherin und Deutschlands erste volle Professorin für Positive Psychologie. Sie lehrt und forscht an der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport in Berlin.

"Zeitpunkt zur Sensibilisierung"

tagesschau.de: Wenn wir einen Blick auf die Europawahl werfen: Welche Rolle haben solche Demonstrationen in dieser Zeit?

Mangelsdorf: Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Wahlergebnisse durchaus im Nachhinein in Richtung solcher Demonstrationen tendieren können, und zwar sowohl in der Gestaltung von Politik, aber auch in konkreten Wahlergebnissen. Das heißt, gerade jetzt ist auch ein Zeitpunkt, in der diese Form der Sensibilisierung der Gesellschaft und des Anstoßens des gesellschaftlichen Diskurses noch mal entscheidend sein kann dafür, Einfluss zu nehmen.

tagesschau.de: Oft haben wir gesehen, dass nach großen Demonstrationen das Interesse wieder abgeflaut ist. Warum ist das so?

Mangelsdorf: Das hat unterschiedliche Gründe. Ein Grund, mit dem wir das erklären, ist, dass nachhaltiges, aktives Engagement sehr von den Konsequenzen dieses Engagements geprägt ist. Das heißt: "Habe ich das Gefühl, wir machen hier einen Unterschied? Greift die Politik und der gesellschaftliche Diskurs das auf?"

Vor allem dann, wenn diese Verstärkung entsteht, oder aber wenn es starken Gegenwind gibt, wird die Motivation aufrechterhalten. Das ist der eine Teil. Der andere Teil ist das Thema von Niedrigschwelligkeit oder Zugänglichkeit. Es ist leicht, wenn mich der Nachbar einlädt, gemeinsam auf die Demonstration zu gehen und nur durch meine Anwesenheit dort einen Unterschied zu machen.

Die entscheidende Frage ist häufig, was jetzt? Wie findet man den Weg von etwa allgemeinen Demonstrationen hin zu wirklich nachhaltigem Handeln in konkreten Projekten - das ist häufig die große Herausforderung.

Judith Mangelsdorf, Psychologin Hochschule für Gesundheit und Sport, zum langfristigen politischen Engagement von Menschen

tagesschau24

Psychologische Mechanismen

tagesschau.de: Wie kann diese Herausforderung gemeistert werden?

Mangelsdorf: Es gibt zwei sehr zentrale psychologische Mechanismen. Das eine ist das Thema der Zugehörigkeit: Wo gibt es Gruppen oder Zusammenschlüsse nicht nur im Rahmen von Demonstrationen, sondern eben auch in langfristigen Aktivitäten, mit denen ich mich identifizieren kann und die mich auch als Gruppe tragen, um mich langfristig für ein Thema einzusetzen.

Und das Zweite ist das Thema individueller Bedeutsamkeit. Habe ich das Gefühl, gehört zu werden als Individuum in dieser Gesellschaft oder mit meiner Meinung? Und habe ich auch das Gefühl, dass ich etwas tun kann, das wirklich einen Unterschied macht? Das Prinzip der Selbstwirksamkeitserwartung ist hier ganz zentral. Langes Engagement lebt davon, dass all das zusammenkommt, um mich immer wieder neu zu motivieren, mich stark zu machen für ein Thema.

Konkrete Projekte

tagesschau.de: Wie gelingt das?

Mangelsdorf: Die Demonstrationen sind ein wichtiger Impulsgeber auch dafür, um eine kollektive Selbstwirksamkeit aufzubauen. Das Gefühl, dass die großen Probleme von vielen Menschen gleichzeitig gesehen, ernst genommen und angegangen werden, ist ein wichtiger Teil.

Wichtig ist die Frage: Wie kommen wir immer wieder zusammen, ob in Demonstrationen oder in anderen gesellschaftlichen Formen des Miteinanders, in denen ich das Gefühl habe, wir widmen uns gemeinsam einem Thema und machen einen Unterschied?

Das Zweite ist, dass wir tatsächlich so etwas brauchen wie eine stärker am Zusammenhalt orientierte Form von sehr konkreten Projekten, in denen sich Menschen engagieren können. Sehr oft stellt sich die Frage, was konkret sind denn die Möglichkeiten, mich beispielsweise für mehr Demokratie zu engagieren?

Und wissen Menschen überhaupt, wie und wo sie sich engagieren können? Das heißt, je konkreter die Projekte sind, in denen ich mich engagieren kann und von denen ich auch überzeugt bin, dass sie einen Unterschied machen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns engagieren und in diese gesellschaftliche Entwicklung hineinfinden.

Gemeinsam Zukunft gestalten

tagesschau.de: Wie steht es denn um unsere Gesellschaft - ist so ein Zusammenhalt möglich oder ist die Gesellschaft eher polarisiert?

Mangelsdorf: Die ehrliche Antwort heißt wohl beides. Das Interessante ist, dass Polarisation nicht nur etwas Negatives bedeuten muss. Denn Polarisation sorgt natürlich auch dafür, dass viele Menschen aus der Reserve gelockt werden. Das heißt, dass sich Menschen plötzlich für Demokratie stark machen, die bisher Demokratie als Gegebenheit angenommen haben. Oder, dass sich Menschen plötzlich für die Umwelt stark machen, die bisher einfach davon ausgegangen sind, dass es auch ohne das eigene Engagement gehen wird. Das heißt, die Polarisation sorgt auch dafür, dass wir motiviert werden, in Aktivismus zu kommen, uns zu zeigen, auf die Straße zu gehen, uns stark zu machen.

Die entscheidende Frage ist, ob wir in der Lage sind, diese Polarisation und die Aktivierung, die ausgelöst wurde, in eine Bewegung hineinzuführen, in der sich Menschen stark machen und Politik mitgestalten, um wieder gemeinsam Zukunft zu gestalten.

Das bedeutet, dass wir auch im gesamtgesellschaftlichen Dialog die Fähigkeit brauchen, im Rahmen der Polarisation aufeinander zuzugehen, einander zuzuhören und wieder ein Miteinander zu schaffen. Es geht darum, das nicht als Gegensätze zu verstehen, sondern als etwas, was sich befeuern kann, um wirklich Menschen zu aktivieren, in dieser Welt einen Unterschied zu machen.

"Was ist der Mensch und was ist die Meinung?"

tagesschau.de: Wie kann das denn gelingen?

Mangelsdorf: Es sind vor allem drei zentrale Aspekte, die wir in den Blick nehmen müssen. Einmal Dialogfähigkeit: Das bedeutet, dass ich dableibe, dass ich im Gespräch bleibe, dass ich auch den Disput nicht scheue, wenn es darum geht, Menschen mit anderen Meinungen zu begegnen. Denn das, was eine der größten Risiken von Polarisation ist, ist, dass wir aus dem Dialog treten und damit in gesellschaftliche Spaltung hineingehen.

Das Zweite wäre, dass wir wieder lernen, voneinander zu unterscheiden: "Was ist der Mensch und was ist die Meinung?" Das heißt, ich kann eine Meinung ablehnen und auch ein Verhalten ablehnen, ohne aber den Menschen oder die Menschenwürde dahinter anzugreifen. Das ist etwas, was gerade in vielen sozialen Medien nicht passiert und damit die Polarisation treibt, ohne das Miteinander in den Blick zu nehmen.

Und das Dritte, was es braucht, egal ob wir in Richtung Demokratie schauen oder in Richtung Klimaentwicklung, ist, dass wir als Gesellschaft das Prinzip der Hoffnung hochhalten. Wir können uns nur weiterentwickeln - auch in Bezug auf Krisen -, wenn wir hoffnungsvoll bleiben. Hoffnung ist der psychologische Garant dafür, dass ich in dieser Welt wirksam werde, dass ich mich einsetze und einen Unterschied mache. Wenn die Hoffnung stirbt, dann stirbt jede Form von Aktivismus. Dann muss ich mich nicht mehr engagieren.

Wenn wir versuchen, in diese drei Bewegrichtung zu steuern, dann kann es nach meiner Auffassung gelingen, dass so etwas wie Zusammenhalt wachsen kann, auch in Zeiten der Polarisation.

"Politik muss einen Beitrag leisten"

tagesschau.de: Kann die Politik einen Beitrag dazu leisten?

Mangelsdorf: Ich glaube, Politik muss einen Beitrag dazu leisten. Denn gerade die großen gesellschaftlichen Probleme, vor denen wir jetzt stehen, sind nur durch ein Zusammenführen und Zusammenhalten von Gesellschaft und Politik möglich.

Politik ist jetzt sehr gefordert, das Prinzip der Bedeutsamkeit des Individuums in den Blick zu nehmen. Es geht darum zu versuchen, alle zu hören und auch unterschiedliche Meinungen wertzuschätzen und gelten und dazwischen einen Diskurs entstehen zu lassen. Und natürlich geht es auch darum, auf die Proteste, die wir jetzt sehen, zu reagieren.

Nur wenn wir als Bürger und Bürgerinnen das Gefühl haben, dass wir gehört werden, in dem, was wir versuchen, an die Politik zu geben, kann der notwendige gesellschaftliche Diskurs entstehen. Nur dann kann es so etwas geben wie eine langfristige Entwicklung in der gesamten Gesellschaft, die aufeinander zu geht, statt voneinander weg.

Das Gespräch führte Anja Martini, Wissenschaftsredakteurin tagesschau. Es wurde für die schriftliche Fassung gekürzt und redigiert.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete NDR Info am 31. Mai 2024 um 03:45 Uhr.