Geschlechtsspezifische Medizin Frauen und Männer sind anders krank
Bei Erkrankungen macht das Geschlecht einen Unterschied - die Forschung dazu ist aber noch am Anfang. Wissenschaftler aus dem Saarland wollen das ändern und wichtige Erkenntnisse für die geschlechtsspezifische Medizin sammeln.
Ein plötzlicher Schmerz in der Brust, der in den Arm zieht, Atemnot oder Engegefühl in der Brust: Das können Hinweise auf einen Herzinfarkt sein, der sofort behandelt werden sollte.
Zumindest bei Männern treten diese Symptome häufig auf. Bei Frauen hingegen können sie ganz anders aussehen. Übelkeit, Kurzatmigkeit sowie Schmerzen im Oberbauch können hier auf einen Herzinfarkt hinweisen.
Neues Zentrum betreibt Grundlagenforschung
Frauen und Männer sind anders krank - das Wissen um diese Unterschiede gibt es schon. Doch wie es zu dazu kommt, wird jetzt intensiver erforscht. Und zwar am neu gegründeten Centrum für geschlechtsspezifische Biologie und Medizin in Homburg im Saarland. Dort soll dem Thema ganzheitlich und interdisziplinär nachgegangen werden. Dafür bündelt das Zentrum verschiedene Forschungsbereiche aus Medizin und Biologie. Ein bislang einmaliger Ansatz, erklärt der Neurowissenschaftler Frank Kirchhoff, der das Zentrum mit gegründet hat.
"Womit wir häufig starten, sind Beobachtungen in der Klinik bei Patientinnen und Patienten, die uns Gewissheit geben, dass es Unterschiede gibt, zum Beispiel in einem bestimmten Krankheitsbild zwischen Männern und Frauen", sagt Kirchhoff.
Viele Unterschiede schon bekannt
Das Herzinfarktbeispiel zeigt, wie wichtig die Forschung zu diesem Thema ist. Denn statistisch erkennbar ist bereits jetzt, dass bei Männern ein Herzinfarkt häufiger diagnostiziert wird, aber auch Frauen häufig an einem Herzinfarkt sterben. Solche Unterschiede gibt es auch bei anderen Krankheiten.
Frauen haben etwa ein dreifach höheres Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken, leiden häufiger an Osteoporose oder Depression. Männer hingegen sind etwa bei schweren Verläufen einer Corona-Infektion häufiger gestorben. Der nächste Schritt sei jetzt, herauszufinden, welche Mechanismen im Körper zu diesen Unterschieden führen, sagt Experte Kirchhoff.
Forschung muss zielgerichteter werden
"Aus verschiedenen Gründen wurden Studien bisher häufig nur an einem Geschlecht durchgeführt", fügt Professor Sandra Iden hinzu, Zellbiologin und ebenfalls Mitbegründerin des Zentrums. "Da kann es sein, dass man Effekte im anderen Geschlecht übersieht, man daraus Ableitungen trifft und auf beide Geschlechter anwendet, die eigentlich gar nicht passen", erklärt sie. Im schlimmsten Falle könne es sogar entgegen gerichtete Effekte geben.
Die Forschung müsse also zielgerichteter werden, anderenfalls werden Krankheiten bei bestimmten Personengruppen im Zweifel später oder seltener entdeckt oder falsch behandelt.
Erster Schritt in Richtung personalisierte Medizin
Dazu hat auch der Wissenschaftsrat erst im Juli dieses Jahres eine Empfehlung herausgegeben. Darin heißt es, dass Gesellschaft kein geschlechtsfreier Raum sei und der Mensch kein geschlechtsfreies Wesen. Die Bedeutung der geschlechtsspezifischen Forschung sei entsprechend groß.
Ein wichtiger Schritt auch in Richtung personalisierte Medizin: "Personalisierte Medizin umfasst im Idealfall zahlreiche differenzierende Parameter, und auch ein so allgemeiner Parameter wie das Geschlecht sollte hier beachtet werden", sagt auch Iden.
Woher kommen geschlechtsspezifische Unterschiede?
Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte habe grundlegende Mechanismen aufgedeckt: Wie funktioniert das Gehirn? Wie funktioniert die Signalübertragung im Nervensystem?
"Nachdem wir jetzt grob wissen, wie der Körper funktioniert, wie das Gehirn funktioniert, wie Organe funktionieren, hat es schon immer das Bedürfnis gegeben, das mit Krankheiten zu vergleichen", so Kirchhoff. Welche Mechanismen führen also zu welchen Ausprägungen bei Krankheiten, sei jetzt die Frage, die man sich stelle. Und welche Rolle spiele dabei das Geschlecht?
Zellen kommunizieren verschieden miteinander
Da Krankheiten selten in einem einzigen Organ entstehen, müsse man bei der Forschung den Gesamtorganismus in den Blick nehmen, erklärt Kirchhoff. Organe kommunizieren auf zellulärer Ebene miteinander, und das unterschiedlich je nach Geschlecht.
Zum Beispiel sei bereits feststellbar, dass Männer stärker innerhalb einer Hirnhälfte verknüpft sind und Frauen stärker zwischen beiden Hirnhälften. Auch dieser Mechanismus lässt sich laut Kirchhoff in den Aktivitäten von Zellen finden. "Wir können jetzt genau in den Zell-Zell-Interaktionen die Schlüssel für das Verständnis einer Erkrankung darlegen", sagt er.
Forschung extrem kleinteilig
Und das ließe sich mittlerweile in großem Stil erforschen: „Die wissenschaftlich methodische Weiterentwicklung erlaubt es jetzt, dass wir von den 20.000 Genen, die wir haben, von denen etwa die Hälfte im Gehirn aktiv ist, zu jeder einzelnen Zelle analysieren können, welche Moleküle in dieser Zelle aktiv sind", sagt Kirchhoff.
"Und es sind wirklich einzelne Moleküle, die den Unterschied zwischen den Signalwegen im männlichen gegenüber denen im weiblichen Körper ausmachen."
Zusammenhang zwischen Zellabbau und Alzheimer
Ein Beispiel gibt es bereits aus der Alzheimerforschung. Eine Arbeitsgruppe untersuche derzeit, wie eine Zelle auf eine andere Nervenzelle einen Fortsatz aussendet und dort Zellorganelle anreichern lässt, die für den Zellabbau verantwortlich sind, so Kirchhoff.
Diese Art der Kontaktaufnahme zwischen den Zellen sei im weiblichen Gehirn stärker als im männlichen Gehirn. Das könne vielleicht erklären, warum Alzheimer Frauen stärker betrifft, so eine bisherige Hypothese.
Ziel: Forschung auf trans Personen ausweiten
Auf längere Sicht sei auch die Frage wichtig, inwieweit sich Krankheiten nicht nur zwischen biologisch männlichen und biologisch weiblichen Personen unterscheiden, sondern inwieweit auch trans oder intergeschlechtliche Personen anders krank sind. Dabei spielten allerdings neben den biologischen Faktoren auch soziale eine wichtige Rolle.
Kirchhoff sieht diese Fragestellungen durchaus im Aufgabenbereich des neuen Zentrums in Homburg. Noch könne man allerdings nicht jeder Frage gleich stark nachgehen. Ziel sei deshalb auch, in den nächsten Jahren neue Lehrstühle zu besetzen, die diese Forschungsgebiete abdecken.
"Das ist ein hochspannendes Thema", findet auch Wissenschaftlerin Iden. "Aber wir brauchen erst mal solide Datensätze, um uns überhaupt mit den wesentlichen vorkommenden Geschlechtern auseinanderzusetzen und dann auch statistisch betrachtet einen sauberen Vergleich machen zu können in eher unterrepräsentierte Gruppen."
Auch wenn die Forschung also noch am Anfang ist, setzt sich das Zentrum in Homburg als Ziel, grundlegende Erkenntnisse für die Prävention, Diagnostik und Therapie zu erbringen.