Geflohene ukrainische Forscher "Eine Chance für beide Seiten"
Unter den Flüchtlingen des Ukraine-Kriegs sind auch Hunderte Wissenschaftler. In Deutschland finden sie Schutz - und treiben gleichzeitig die Forschung voran.
Von Alexander Steininger, tagesschau.de
Als der Krieg losging, dachte Mariia Nesterkina noch, es werde schon nicht so schlimm werden. Dass sie in Odessa bei ihrer Familie und ihren Freunden bleiben könne. Doch als immer mehr russische Raketen die Ukraine trafen, merkte die Forscherin, dass sie keine andere Wahl hatte, als zu fliehen: "Ich verlor meine Arbeit an der Internationalen Medizinischen Universität. Im Krieg spielen Wissenschaften keine Rolle mehr - ich wollte aber unbedingt forschen."
In einer Mini-Serie wollen wir die Folgen des Ukraine-Kriegs für die Wissenschaftslandschaft beleuchten. Im ersten Teil geht es um die Ukraine, wo viele Hochschulgebäude beschädigt sind, die Finanzierung unsicher ist und viele Studenten und Forscher vor Kämpfen fliehen. Im zweiten Teil blicken wir auf Deutschland, dem Hauptziel geflüchteter ukrainischer Akademiker, und die Frage, wie sie hier ins Forschungssystem integriert werden - und wie das auch einem späteren Wiederaufbau der Ukraine helfen kann. Und zum Schluss geht es um Russland, das unter den Sanktionen leidet, gleichzeitig aber die Repression verschärft.
Keine zwei Wochen nach Kriegsbeginn flüchtete die 30-Jährige am 5. März 2022 nach Stuttgart, wo sie bei einer Bekannten unterkam - und sich sofort auf die Suche einer Uni machte, um weiter forschen zu können. Trotz ihres jungen Alters ist die Pharmazeutin bereits gut vernetzt in der internationalen Wissenschaftscommunity, hatte Angebote von Universitäten aus Portugal oder der Türkei. Doch sie entschied sich, in Deutschland zu bleiben - und landete am Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS). "Die Forschung in Deutschland ist auf Spitzenniveau und ich konnte inhaltlich genau da weitermachen, wo ich in Odessa aufgehört hatte", sagt Nesterkina.
Forschung an neuen Medikamenten
In Saarbrücken forscht sie an neuen Wirkstoffen gegen Krankheitserreger wie Bakterien, Parasiten oder Viren. Dabei untersucht sie beispielsweise, wie die Wirkstoffe im Körper besser an ihren Bestimmungsort transportiert werden können, oder welche Proteine in den Erregern ein möglicher Angriffspunkt für die neuen Medikamente sein könnten. Einige Forschungsprojekte brachte sie quasi aus ihrer Heimat mit nach Saarbrücken. Die Abteilungsleiterin am HIPS, Anna Hirsch, ist begeistert: "Es ist bemerkenswert, wie schnell sich Mariia in unsere Projekte und in das Team eingefunden hat - für uns ist sie ein echter Glücksfall."
Nesterkina war bereits an mehreren Publikationen beteiligt, vertritt das Institut auf internationalen Konferenzen und bemüht sich selbst um Förderanträge für ihre Projekte. Bei einer Fachkonferenz in Dublin habe sie sogar einen Preis für die beste Präsentation gewonnen, berichtet Hirsch. "Anfangs stand der Hilfsgedanke im Vordergrund - dass es so gut werden würde, hätten wir uns nicht im Traum vorstellen können", sagt die Professorin, die selber auch für einige Wochen ukrainische Flüchtlinge bei sich zuhause aufnahm.
Deutschland Haupt-Zielland ukrainischer Forscher
Das Schicksal von Nesterkina steht exemplarisch für das Hunderter weiterer Wissenschaftler aus der Ukraine - allein am HIPS forschen aktuell drei ukrainische Geflüchtete. Genaue Zahlen sind schwer zu erheben, da die Einreise nach Deutschland ohne Visum möglich ist und der Berufsstand der Flüchtlinge nicht erhoben wird. Doch laut der Neurophysiologin Olga Garaschuk sind etwa 13 Prozent der rund 80.000 akademischen Forscher und Forscherinnen aus dem Land geflohen. Garaschuk selbst ist bereits seit 2008 Professorin in Tübingen und Präsidentin der Deutsch-Ukrainischen Akademischen Gesellschaft.
Laut ihren Erhebungen ist mit 27 Prozent der größte Teil der geflohenen Forscher nach Deutschland gekommen, Polen kommt direkt dahinter. Das entspräche knapp 300 Wissenschaftlern, die in den vergangenen zehn Monaten nach Deutschland geflohen sind.
Doch verläuft ihre Integration in die deutsche Forschungslandschaft immer so erfolgreich wie bei Nesterkina? Haben die Akademiker die Möglichkeit, ihre Expertise einzubringen - und gibt es genug finanzielle Mittel, um sie überhaupt zu beschäftigen?
Nesterkina forscht am HIPS zu neuen Medikamenten-Wirkstoffen.
Viele Hilfsprogramme
Fast alle großen Forschungseinrichtungen haben eigene Hilfsprogramme für geflüchtete Ukrainer aufgelegt: Max-Planck-Institute, die Helmholtz-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Auch der Bundestag hat mehrere Millionen Euro für ukrainische Studierende und Akademiker bereitgestellt - "Science Diplomacy" lautet das Stichwort.
Wenn man Forschungseinrichtungen zu den ukrainischen Wissenschaftlern befragt, ist das Urteil durchweg positiv. "Die Ukraine hat einen durchaus hohen Bildungsstand, zudem wird beispielsweise die ukrainische Promotion in Deutschland anerkannt", sagt Michael Flacke vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Das vereinfache die Integration. In naturwissenschaftlichen Disziplinen sei die Zusammenarbeit offenbar einfacher als etwa in Geisteswissenschaften, weil die Sprachbarriere nicht so eine große Rolle spielt. Zudem seien ukrainische Hochschulen wie die in Kiew oder Lwiw jahrhundertealte Einrichtungen und international gut vernetzt.
Win-Win-Situation
Aber nicht nur die Ukrainer profitieren: Die Expertise, die sie mitbringen, hilft auch der deutschen Forschungslandschaft - ganz konkret bei Projekten, aber auch dabei, vielversprechende Forscher zu binden. So hat beispielsweise allein die Max-Planck-Gesellschaft mindestens 36 Forschende an 16 ihrer Institute geholt und dafür eine Million Euro bereitgestellt. Insgesamt zählt die MPG aktuell 168 ukrainische Forschende in ihren Reihen - und damit doppelt so viele wie noch Ende März. Auch HIPS-Forschungsgruppenleiterin Hirsch spricht von einer Win-Win-Situation: "Es ist - ohne das Kriegsleid und die Flucht zu vergessen - ein Glücksfall und eine Chance für beide Seiten."
Sie würde Nesterkina gern eine längerfristige Perspektive am Forschungsstandort Saarbrücken bieten. Wegen der unberechenbaren politischen Lage hatte sie bisher nur kurzfristige Verträge. Das bedauert auch Nesterkina - denn auch sie hätte gerne mehr Gewissheit, wie es nach dem Frühjahr weitergeht.
Wissenstransfer als Wiederaufbauhilfe
Dennoch ist ihr auch klar: Sobald es die Situation in Odessa zulässt, will sie in ihre Heimat zurückkehren. "Meine Mutter ist noch dort, ich will sie wiedersehen und unterstützen. Außerdem will ich beim Wiederaufbau meines zerstörten Landes helfen. Als Forscherin kann ich das am besten, indem ich helfe, die Wissenschaftslandschaft wieder aufzubauen." Dabei, da ist sie sich sicher, werden ihr auch ihre Erfahrungen aus Deutschland helfen.